UWE WITTSTOCK: „MARSEILLE 1940“


Als 1933 die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen, hatte das auch für das kulturelle Leben brutale Auswirkungen. Ein ganz frühes Fanal des Ungeistes war die öffentliche Bücherverbrennung. Uwe Wittstock widmete sich diesen Vorgängen mit dem Bestseller „Februar 33. Der Winter der Literatur“.
In dessen Folge mussten damals unzählige Literaten und andere Größen von Kunst und Feuilleton ins Exil gehen, um zumindest Leib und Leben zu retten. Ein großer Teil dieser Kulturschaffenden – unter ihnen zahlreiche mit jüdischem Hintergrund und deshalb doppelt gefährdet – gingen nach Frankreich. Man denke nur an die Ansammlung berühmter Schriftsteller allein im südfranzösischen Sanary-sur-Mer.
Um so größer war das Entsetzen, als die Wehrmacht im Mai 1940 in Frankreich einfiel und in einem beispiellosen Vormarsch den größten Teil des Landes eroberte. Auch wegen der begleitenden Kriegsverbrechen gingen Millionen von Menschen auf die Flucht. Für viele der deutschsprachigen Emigranten aber war es nun das zweite Mal, dass sie flüchten mussten.
Quasi stellvertretende für diese Millionen Flüchtlinge macht Uwe Wittstock deren schlimmes Schicksal nun exemplarisch fest an jenen tausenden von namhaften Emigranten. Schon einmal von den Nazis der Heimat beraubt, mussten sie sich in den ersten Tagen der Invasion bereits zum zweiten Mal die bittere Demütigung gefallen lassen, als „potentielle Sympathisanten der Nazis“ interniert zu werden.
Wittstock widmet sich diesem schicksalhaften Jahr der deutschen Literaturgeschichte mit dem erzählenden Sachbuch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“. Nicht mit nüchterner Ausbreitung von Vorgängen und Fakten geschieht dies, sondern zwar chronologisch aber aufgeteilt in viele Einzelgeschichten, um Not und Schrecken ein Gesicht zu geben.
Die Riege der Betroffenen ist ellenlang und umfasst berühmte Namen wie Lion Feuchtwanger, Golo und Heinrich Mann, Anna Seghers und Hannah Ahrendt, aber auch Malergenies wie Marc Chagall und Max Ernst. Immer wieder werden die oft knappen Kapitel mit Orts- und Datumsangabe eingeleitet, denn vieles geschah parallel.
Als Handlungsrahmen findet dabei das Wirken eines Mannes eine viel zu späte literarische Würdigung, der für die Rettung von mindestens 2.000 Betroffener sorgte: Varian Fry (1907-1967). Der US-Journalist hatte 1935 Berlin und das Treiben der braunen Machthaber studiert, was hier im exzellenten Prolog vorangestellt wird.
Nun rief er eine Flüchtlingsorganisation ins Leben, die in Marseille im unbesetzten Teil Frankreichs als „Centre Americain de Secours“ den bedrohten Intellektuellen Einreise-Visa nach Amrika und Passagen nach dorthin verschaffte- Wobei es in manchen Fällen beim Versuch blieb, weil ausgerechnet das eigene, das amerikanische Auswärtige Amt, Steine in den Weg legte.
Wittstock bezeichnet die unermüdlichen Helfer des Centre und anderer Hilfsorganisationen als „Gruppe erstaunlicher Menschen, die unter erheblichen Gefahren versuchten, so viele Exilanten wie möglich aus der tödlichen falle zu retten, zu der Frankreich für sie geworden war.“
Anhand einzelner Fälle wird da nicht nur die Drangsal spürbar, als hunderte der auf ihre nächste Flucht Wartenden in solch berüchtigte Internierungslager wie Les Milles und Gius verfrachtet wurden. Als nach dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 die Vichy-Regierung unter dem pro-faschistischen Marschall Petain die Herrschaft im nicht-besetzten Landesteil übernahm, kamen die Lsiten der Gestapo mit Namen von Gesuchten hinzu – und das Regime war behilflich und erließ sogar eigens ein „Judenstatut“.
Das Alles ist nicht nur hervorragend recherchiert und souverän arrangiert, Uwe Wittstock hat es so spannend aufbereitet, dass sich dieses Sachbuch wie ein Thriller liest. Bei dem stets außer Frage steht, dass alle Schilderungen historisch belegt sind. Und die bewegen auch deshalb ungemein, weil sie sehr persönlich gehalten sind.
Das größte Verdienst dieses großartigen Buchs aber ist die längst überfällige Würdigung Varian Frys. Diesem amerikanischen Schindler wurde erst 1994 eine angemessen Ehrung zuteil mit der Aufnahme als „Gerechter unter den Völkern“ im Holocaust-Mahnmal Yad Vashem sowie 1998 als Ehrenbürger Israels.
Bleibt die Feststellung des Autors zum Wirken dieser ehrenamtlichen Helfer zu zitieren: „Sie gaben ein Beispiel unbeirrter Menschlichkeit in Zeiten denkbar größter Unmenschlichkeit.“

# Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur; 351 Seiten, div. SW-Abb.; C. H. Beck Verlag, München; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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