MANFRED GÖRTEMAKER: RUDOLF
HESS. DER STELLVERTRETER
Am 10. Mai 1941 startete in Augsburg eine zweimotorige Me 110, ausgestattet mit
Zusatztanks, Richtung Schottland. An Bord der zweisitzigen Maschine (in der Uniform eines
Luftwaffen-Hauptmanns) nur ein Pilot: Rudolf Hess. Über der Nordsee entkommt er
britischen Abfangjägern und erreicht das erste seiner Ziele per Fallschirmabsprung über
schottischem Gebiet.
Bald wird er gefangen genommen und die Briten staunen nicht schlecht, denn der Pilot ist
kein Geringerer als Adolf Hitlers Stellvertreter. Der bis dahin engste Vertraute des
Führers will mit dem Duke of Hamilton sprechen, um einen Separatfrieden mit dem
Vereinigten Königreich auszuhandeln. Hess weiß, dass er Angriff auf die Sowjetunion kurz
bevorsteht und er befürchtet einen Zweifrontenkrieg wie im Ersten Weltkrieg.
Das alles ist ebenso bekannt wie das recht klägliche Scheitern seiner Mission, dass er
von den Briten als Gefangener festgehalten und nach dem Kriegsende vom Nürnberger
Kriegsverbrechertribunal zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der er sich erst 1987 im
Alter von 93 Jahren durch Suizid entzog.
Der aber ebenso von manchen Historikern angezweifelt wird wie auch die öffentlich
bekannten Vorgänge insbesondere um den Schottland-Flug, den die Nazi-Presse umgehend als
Irrsinnstat eines geistig Verwirrten aburteilte. Wer aber war Rudolf Hess
wirklich, wie stark war seine Rolle im Nazi-Regime wirklich und was trieb ihn zu diesem
mysteriösen Flug?
Diese Fragen werden endlich weitgehend erschöpfend von einem Fachmann beantwortet:
Manfred Görtemaker, emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität
Potsdam legte nach 20-jähriger Forschungsarbeit unter dem Titel Rudolf Hess. Der
Stellvertreter die erste wirklich umfassende seriöse Biographie zu dieser bis heute
rätselhaft gebliebenen Figur der höchsten Nazi-Nomenklatura vor.
Eine ideologisch durchsetzte aus DDR-Zeiten ist für die Wissenschaft wertlos und die von
Peter Longerich, einem hochkarätigen Kenner der Materie (Hitlers Stellvertreter.
Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Hess von 1992)
ist keine Biographie im eigentlichen Sinne.
Die hohe Qualität von Görtemakers Werk liegt nicht nur in der hohen Kompetenz des
Autors. Zugute kam ihm auch, dass er umfangreiches neues Quellenmaterial auswerten konnte,
das erst neuerdings zur Verfügung steht. So bekam Görtemaker Zugriff auf die
vollständigen Akten der britischen National Archives zu Rudolf Hess sowie auf den
umfangreichen privaten Nachlass des Nazi-Funktionärs. Hinzu kamen Einblicke in die
Aufzeichnungen des 14. Duke of Hamilton, den Hess nach seinem Flug aufsuchen wollte und
mit dem er tatsächlich sprechen konnte.
Sehr eingehend stellt Görtemaker den Sohn eines Großkaufmann zunächst in Kindheit und
Jugend in einer Villa im ägyptischen Alexandria vor. Es mag am isolierten Aufwachsen
gelegen haben, dass Hess stets als introvertiert und von sozialer Steifheit geprägt
bezeichnet wurd.e Seine Haltung als großer Schweiger hielt er jedenfalls bis zuletzt bei
einschließlich der Schottland-Mission, den Nürnberger Prozessen und hinsichtlich der
Einzelhaft im Spandauer Gefängnis.
Stramm deutsch-national erzogen, war er gleichwohl bis Ende des Ersten Weltkriegs
politisch uninteressiert. Dass er zu den ersten Kriegsfreiwilligen gehörte, hatte
allerdings nicht nur patriotische Gründe er wollte der vom Vater geforderten
Kaufmannslaufbahn entkommen.
Dreimal verwundet und zuletzt Jagdflieger, war er zutiefst traumatisiert über die
Niederlage Deutschlands. Das und die ungewisse Perspektive ohne Beruf und Einkommen
machten ihn offen für die nun einsetzenden Revolten der reaktionären Freikorps. Seit
Anfang 1920 ist eine Radikalisierung seiner politischen Auffassungen einschließlich
Antisemitismus und Rassismus belegt.
Vermutlich am 19. Mai 1920 gab es die erste Begegnung mit Adolf Hitler, den er schon bald
glühend bewunderte. Hess beteiligte sich am gescheiterten Hitler-Putsch im November 1923
in München und saß mit dem Anführer in Landsberg ein. Nach Ende der Festungshaft und
der Wiedergründung der NSDAP fungierte der äußerst loyale Gefolgsmann als Hitlers
Privatsekretär. Wohl niemand vertraute der misstrauische Hitler so sehr wie dem ebenso
effektiven wie verschwiegenen Hess.
Der dann auch bei der Machtübernahme der Nazis 1933 offiziell Stellvertreter des
Führers im Range eines Ministers wurde. Historiker Görtemaker widerlegt dazu auch
die eher bedeutungslose Handlangerrolle, die Hess immer wieder in der öffentlichen
Diskussion unterstellt wurde. In seiner Scharnierfunktion zwischen Partei und Staat und
eingedenk einer Vielzahl weiterer Ämter mit großer Machtfülle sei vielmehr von einer
Rangstellung auf Augenhöhe mit Goebbels und Göring auszugehen.
Eine Sphinx aber blieb Hess bis zuletzt und letzte Geheimnisse kann selbst diese präzise
Biographie nicht lüften. Dennoch füllt dieses Meisterwerk der Geschichtsschreibung eine
lange während Forschungslücke und ist auch dank seiner immensen Recherchetiefe ein
künftig unverzichtbares Standardwerk zur Geschichte des Dritten Reichs.
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