NATHAN HILL: WELLNESS
Nach Geister legt US-Autor Nathan Hill nach längerer Pause seinen nächsten
nicht nur vom Umfang her großen Roman unter dem Titel Wellness vor. Erneut
begeistert er mit grandioser Prosa und warmherziger Satire.
Im Jahr 1993 sind Jack Baker und Elizabeth Augustine zum Studium in dasselbe
heruntergekommene Viertel von Chicago gezogen. Dort wohnen sie in so nah
gegenüberliegenden Häusern, dass sei einander heimlich beobachten können.Als sie sich
dann nach Wochen in einem Musikclub endlich persönlich begegnen, ist einfach alles sofort
klar.
Kommst du heißt es da nur und fortan schlafen die beiden Seelenverwandten
jede Nacht eng aneinander gekuschelt. Ein wunderbar romantisches Kapitel entfaltet sich,
wie der angehende Fotokünstler aus der tiefsten Provinz in Kansas und die Tochter aus
einer reichen Neuengland-Familie, die nun Psychologie studiert, zueinander finden.
Natürlich erzählen sie einander auch von ihrem Vorleben, allerdings wie sich im
weiteren Verlauf in wechselnden Perspektiven und Zeitebenen herausstellt tun sie
dies eher beschönigend. Zwar haben Beide aus sehr triftigen gründen den Kontakt zu ihren
Eltern abgebrochen, doch die wirklichen persönlichen Dämonen von damals werden nur
ansatzweise erwähnt.
Um so überraschender liest sich dann die Überschrift des zweiten großen Kapitels:
Getrennte Schlafzimmer. Nach fünf Jahren habe Jack und Elizabeth geheiratet
und 2008 wurde ihr Wunschkind Toby geboren. Es geht ihnen ganz passabel, die innige
Seelenverwandtschaft allerdings hat nicht nur durch das nervige Kind viel an Glanz
verloren.
Jack ist mit seiner experimentellen Fotokunst nicht zuletzt durch die Anbahnung seitens
des Ideenschaumschlägers Benjamin Vince anerkannt und verdient als mäßig bezahlter
Kunstdozent einen Teil des Lebensunterhalts. Psychologin Elizabeth stiegt im Teilzeitjob
ein, reibt sich andererseits als Helikoptermutter aber auch mit Toby auf, der offenbar
mindestens ein Asperger-Syndrom hat.
Nun aber lockt der zum Immobilienhändler aufgestiegene Vince zur Traumwohnung in einem
hochklassigen Wohnturm in einem ebensolchen Viertel. Die Beiden stecken ihr kleines
Finanzpolster in das noch zu erstellende Projekt. Das für Jack mit einer
unverständlichen Zumutung verbunden sein soll: es sind nach all den Jahren getrennte
Schlafzimmer vorgesehen.
Doch auch die eingestreuten Rückblenden lassen erkennen, dass die seelischen Wunden für
Beide weitaus einschneidender waren, als sie einander und wohl auch sich selbst
eingestanden haben. War es bei Farmerssohn Jack vor allem die herzlose
frömmlerische Mutter, die ihm immer wieder unmissverständlich erklärte, dass er für
die Spätgebärende gar nicht hätte geboren werden sollen, ist es bei
Elizabeth die kalte Familie.
Seit Generationen frönten deren Patriarchen einen brutalen Raubtierkapitalismus und ihr
Vater ist ein abstoßendes Musterbeispiel dafür. Doch Nathan Hill vermeidet geschickt
jedes Klischee und arbeitet stattdessen mit überzeugenden Symbolen. So kommt es dann zu
Wellness, dem Titel des Romans, der mit Wohlfühloasen in Luxushotels nichts
zu tun hat.
Vielmehr hat Elizabeth in ihrer Arbeit für einen gewieften Psychologen die psychologisch
anwendbaren Placebo-Möglichkeiten wissenschaftlich untersucht. Und sie wird Leiterin des
zukunftsweisenden Wellness-Instituts, das diese Segnungen erfolgreich anwendet. Was
du nicht misst, kannst du nicht verbessern lautet einer der Grundsätze des Systems
und das geht bis zu Messungen des Intimitätsquotienten.
Derweil zerbröselt durch typische Investorenmachenschaften nicht nur der Traum von der
Wohnung fast im Wortsinne. Auch ihre Seelenverwandtschaft zerbröselt, und weil sie
einander so gut kennen, treffen die Spitzen der Aggressionen umso effektiver. Da wird es
fast zur Randnotiz, dass die Wellness-Blase als Placebo-Chimäre geoutet wird und
Elizabeth schließen muss.
Wellness ist trotz einiger Längen eine brillante Gesellschaftskritik mit
hervorragend gezeichneten Charakteren bis in die Nebenrollen. Für nicht so US-affine
Leser könnte es allerdings ein Manko sein, dass hier sehr amerikanische
Mittelstandsbefindlichkeiten die zentrale Rolle spielen.
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