JEANETTE WALLS: VOM HIMMEL
DIE STERNE
Es gibt Romane, die wie eine Dampflokomotive sind, die langsam anrollt, um schließlich
immer gewaltiger drauflos zu rollen. Genau das ist der US-Erfolgsautorin Jeannette Walls
(Schloss aus Glas) mit ihrem neuen Buch unter dem Titel Vom Himmel die
Sterne gelungen.
Man lasse sich weder vom Titel noch den dem so idyllisch startenden Prolog täuschen, in
dem eine übergroße Vaterfigur seiner siebenjährigen Tochter einen knallroten
Bollerwagen schenkt. Ich-Erzählerin Sallie Kincaid schildert in aller Unschuld, wie sie
damit auch dem kleinen Halbbruder Eddie das Fahren beibringen will.
Als es dabei jedoch zu einem Unfall kommt und der Kleine schwer verletzt wird, sorgt ihre
kalte Stiefmutter Jane dafür, dass ihr Vater sie zu der entfernt lebenden Tante Faye
bringt. Die angebliche nur kurze Weile wird zu einer Verbannung auf fast zehn Jahre in
bitterer Armut.
Nun springt die Geschichte in die Zeit um 1920 und die Stiefmutter wird Opfer der
Spanischen Grippe. Woraufhin der Vater Sallie zurück ins Große Haus holt, wo
er seit langem als mächtigster Mann im Claiborne County im ländlichen Virginia
sämtliche Zügel in Wirtschaft und Politik in der Hand hält.
Von allen der Duke genannt, sorgt er mit Charisma und harter Hand (man stelle
sich John Wayne in seinen maskulinsten Rollen vor!) für die sogenannte
Kincaid-Gerechtigkeit. Nachdem damals Sallies Mutter als zweite Ehefrau unter
ungeklärten Umständen umkam und jetzt auch Jane fort ist, gehört es zum
selbstherrlichen Gebaren des Duke, dass er sehr bald mit Katharine, einer 32-jährigen
Witwe, heimkehrt und sie als seine neue Ehefrau vorstellt.
Derweil gibt es große Probleme mit Eddie, den Halbschwester Sallie daheim unterrichten
soll. Wogegen sich der von seiner Mutter verhätschelte Besserwisser auflehnt. Um dann auf
erstaunliche Weise mit Stiefmutter Kat zu harmonieren. Zugleich gibt es spannende
Einblicke in das Leben dieses bildhaft beschriebenen Kosmos.
Die meisten Menschen leben in bescheidenen bis ärmlichen Verhältnissen und ohne die
illegale Whiskey-Brennerei ginge nichts mehr. Von der das Kincaid-Reich allerdings recht
gut lebt. Sallie wird eingespannt als Fahrerin, die die Mieter abklappert. Von ihrem
Wunsch nach einer richtigen Arbeit will der Duke jedoch nichts wissen, schließlich
gehört eine junge Frau verheiratet.
Frauen haben in dieser Welt und zu dieser Zeit ohnehin nicht viel zu sagen. Das gilt sogar
für Mattie, die sehr selbstbewusste Schwester des Duke. Was sie spätestens zu spüren
bekommt, als der in die Jahre gekommene selbstherrliche Narziss bei einer idiotischen
Mutprobe ums Leben kommt.
Mattie erbt nichts und der noch minderjährige Eddie sehr intelligent aber
weltfremd alles. Was Mattie so sehr umtreibt, dass sie ihn aus der vom Duke
ausersehenen Obhut Sallies herausreißt und sich quasi zum Vormund aufschwingt. Das alles
artet jedoch derartig aus, dass sich der sensible Junge schließlich umbringt.
Längst ist diese Familiengeschichte bis dahin zu einer Art griechischer Tragödie im
ländlichen Virginia geworden und doch längst noch nicht auf ihrem Höhepunkt. Mit Eddies
Tod tritt nämlich Mary auf die Bildfläche als rangmäßige Alleinerbin.
Sie ist das älteste der Kinder des Duke aus seiner ersten Ehe mit einer Frau, die er
damals für Sallies Mutter verstoßen hat. Mit Mary und dem Prediger, den sie bald
heiratet, kommen nun aber wilde Veränderungen nicht nur über die Kincaids sondern auch
für die Menschen im Claiborne County.
Mary und ihr Philip sind nämlich nicht nur frömmlerische sondern sogar fanatische
Vertreter der Prohibition. Weitab der großen Städte blieb der heimliche
Wirtschaftsbetrieb der vielen kleinen Whiskey-Brenner bis dahin quasi unterm Radar. Mary
aber bringt mit harter Hand und der Hilfe entsprechender Helfershelfer von außerhalb das
gesamte System in größte Nöte.
Bis zu Mord und Totschlag eskaliert das Geschehen nun und auch für Sallie bricht eine
heillose Zeit an, in der sich entscheiden muss, auf wessen Seite sie stehen will. Das
alles treibt mit immer neuen Wendungen und dem Entdecken mancher dunkler
Familiengeheimnisse auf ein dramatisches Finale zu. Sallie hat die vom Duke beschworenen
Kincaid-Gene, doch es ist ein steiniger Weg, den sie beschreiten muss.
Vom Himmel die Sterne entwickelt sich unaufhaltsam zu einem packenden
Familienepos mit grandios gezeichneten Charakteren. Schnörkellos und rasant geschrieben,
überzeugt dieser absolut filmreife Roman bis zur letzten Zeile.
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