MARGARET ATWOOD: INNIGST/DEARLY
Margaret Atwood ist eine der ganz großen Autorinnen unserer Zeit mit ikonischen Romanen
wie Der Report der Magd und Zeuginnen. Doch auch als Lyrikerin hat
sie ein beachtliches Werk geschaffen, wie zuletzt der Sammelband Die Düchsin
zeigte, der die wichtigsten Gedichte zwischen 1965 und 1995 präsentierte.
Nun aber liegt ein neues Lyrik-Kompendium vor, entstanden zwischen 2008 und 2019, also
während der Zeit, während sie unter anderem die Dystopie Zeuginnen
verfasste. Dearly. Poems of a Lifetime lautet der Originaltitel. Da der Verlag
jedoch sinnvollerweise für eine zweisprachige Version gesorgt und für die Übertragung
ins Deutsche Jan Wagner gewonnen hat, lautet der vollständige Titel
Innigst/Dearly.
In einem der über 70 Gedichte gibt die 1939 geborene Kanadierin den grundlegenden Ton
dieser Verswerke vor: Dies sind die späten Gedichte./Die meisten Gedichte sind
späte,/versteht sich: zu spät,/wie der Brief eines Seemannes,/der eintrifft, nachdem er
ertrunken ist.
Gleichwohl sind diese Gedichte nicht von Tristesse oder gar Depression geprägt.
Altersweisheit ja, aber immer wieder auch von den großen Themen ihres Schaffens wie dem
Feminismus, dem Umweltschutz und der Verdunkelung des gesellschaftlichen Miteinanders.
Das hat Weitsicht und Tiefe, berührt mit mal sensiblen, mal kämpferischen Zeilen, kommt
dabei wie stets ohne Experimente oder Ansätze von Avantgarde daher. Weil sie es einfach
nicht nötig hat, mit solcherlei um Beachtung und Anerkennung zu buhlen. Um so wichtiger
ist ihr die Bewahrung der Sprache und hier gerade geschätzter alter Ausdrücke, die in
Vergessenheit zu geraten drohen wie schon das Titelwort Dearly, dessen
deutsches Pendant innigst auf einer ähnlichen Roten Liste der Wörter steht.
Natürlich spielt Trauer eine Rolle, wenn jemand wie Margaret Atwood im hohen Alter auf
Menschen, Natur und die Welt an sich schaut. Da sind die Dahingegangenen, da ist die
dahindämmernde Mutter, da sind die Dinge, die schwinden. Denen sie schließlich mit
wunderbaren Zeilen trotzt: Es ist spät, allzu spät/zu spät zum Tanzen./Und doch,
sing, was du nur kannst./Dreh die Lichter auf: sing weiter,/ sing. Weiter.
Auch hier eine brillante Sprachzauberin, hat die Gedichtsammlung in dem Lyriker und
Büchner-Preisträger Jan Wagner einen Übersetzer gefunden, der die teils entgegen
vermeintlicher Einfachheit höchst anspruchsvollen Gedichte weit überwiegend mit großem
Geshick übertragen hat.
Allerdings sind ihm vereinzelt vermeidbare Fehler unterlaufen, die dem Original nicht
gerecht werden oder sogar sinnentstellend sind. Wie ausgerechnet im vielstrophigen
Titelgedicht Dearly, wo es an einer Stelle heißt This is a stamen,
nothing to do with men. Wagner macht daraus Dies sind die Stamina, das hat
nichts zu tun mit Ausdauer.
Bei stamen drängt sich jedoch das korrekte deutsche Wort
Staubgefäß geradezu auf und das Wort men muss unbedingt als
Männer ins Deutsche gebracht werden. Während im selben Gedicht dann aus
I miss the missing das holprige Ich vermisse die Vermissten wird
statt der sinngemäß Fehlenden, leistet sich der Übersetzer in The
Aliens arrive eine Übertragung, die die Atwoodsche Nuancierung mit Füßen tritt.
Im Original heißt es da Their leader is a giant head./It lives in a large glass
jar./It wants to mesmerize us. Nicht von ungefähr hat die Dichterin dieses
außerirdische Ding als It bezeichnet, Wagner aber personalisiert es ohne Not
zu Er.
Insgesamt jedoch ist dieser Gedichtband dennoch und gerade in der Zweisprachigkeit ein
großer literarischer Wurf und das nicht nur für reine Lyrikfreunde.
# Margaret Atwood: Innigst/Dearly. Gedichte eines Lebens/Poems of a Lifetime (aus
dem Englischen von Jan Wagner), 237 Seiten; Berlin Verlag, Berlin/München; 28
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) |
|