PETER LONGERICH: AUßER
KONTROLLE DEUTSCHLAND 1923
Vor 100 Jahren ging es Deutschland drunter und drüber und die junge Weimarer Republik
drohte unterzugehen. Stichworte sind Besetzung des Ruhrgebiets, Hyperinflation und Hitlers
Putschversuch. Wie alles miteinander zusammenhängt und auch deshalb weitaus komplizierter
war, blieb dagegen großenteils weniger bekannten wissenschaftlichen Abhandlungen
vorbehalten.
Zur 100. Wiederkehr dieses Schicksalsjahres aber liegen nun gleich mehrere für eine
breitere Öffentlichkeit aufbereitete Sachbücher vor. Allen voran ist hier Außer
Kontrolle Deutschland 1923 von Peter Longerich zu nennen. Der einstige
Professor des Royal Holloway College der University of London und der Universität der
Bundeswehr gilt als einer der profundesten Experten für den Nationalsozialismus und
seiner Entstehung.
Den fatalen Startschuss für die Ereignisse, die die junge Weimarer Republik an den Rand
des Umsturzes brachte, setzten französische und belgische Truppen, die im Januar 1923 das
Ruhrgebiet und bald auch Teile des Rheinlands besetzten. Grund war der fortgesetzte
Verstoß gegen die Reparationsverpflichtungen des unter Wirtschaftsproblemen leidenden
Reichs aus dem Versailler Vertrag.
Diese rüde umgesetzte militärische Aktion bewirkte jedoch statt Unterwerfung eine breite
Entrüstung auf deutscher Seite. Die Reichsregierung unter dem rechtskonservativen aber
olitisch eher unbedarften Kanzler Wilhelm Cuno rief einerseits zum passiven Widerstand
auf, ließ andererseits jedoch auch extremistische Gruppierungen frei gewähren.
Die ohnehin schlechte ökonomische Lage spitzte sich weiter zu und gegen die steigenden
Preise unter anderem musste jetzt teure britische Kohle importiert werden, da die
Besatzer die Kohleförderung im Ruhrgebiet für sich vereinnahmten wurde die
Notenpresse noch stärker angekurbelt, als dies ohnehin bereits seit 1922 der Fall war.
Weitere zentrale Akteure neben dem planlosen Cuno waren einerseits der herrische
nationalkonservative Großindustrielle Hugo Stinnes und der von der Republik wenig
überzeugte Heereschef Hans von Seeckt. Und der Republik fehlte nicht nur der
demokratische Basiskonsens, für die Auflösung der an den Reparationszahlungen hängenden
Inflations- und Wirtschaftsproblemen fehlte es vor allem an einem: dem internationalen
Vertrauen in die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der deutschen Politik.
Da kulminierten die aufrührerischen Auswüchse von kommunistischer Seite und noch weitaus
heftiger die rechtsextremer Wehrverbände. Während im Ruhrgebiet inzwischen der
sogenannte Ruhrkampf ausgebrochen war und Belagerungszustand herrschte, braute sich in den
freien Gebieten eine Mischung zusammen, die Bürgerkrieg und den Zerfall des Reiches immer
näher rückten.
Die Hyperinflation sorgte obendrein für massive Verwerfungen in Staat und Gesellschaft
und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis es zu einem kalten Staatsstreich
rechtskonservativer Kräfte oder zu einem radikalen Outsch Rechtsextremer kommen würde.
In dieser hochbrisanten Phase wurde der neue Reichskanzler Gustav Stresemann zu einem
Glücksfall für die Weimarer Republik. Für den dann im November 1923 ausgerechnet der
Hitler-Ludendorff-Putsch in München zum Befreiungsschlag wurde. Der dilettantisch
durchgeführte Versuch scheiterte. Zugleich aber verhinderte dieses rechtsextreme
Menetekel, dass die anderen Bestrebungen von Rechtsaußen eine Chance zur Umsetzung
hatten.
Es war eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Hitler und Ludendorff und die NSDAP
den bereits bevorstehenden kalten Staatsstreich weitaus größerer und fähigerer
rechtskonservativer Kreise gewissermaßen vermasselten. Die Weimarer Republik war gerettet
und konnte sich erholen. Auch wenn das dann nur noch bis zum Januar 1933 reichen sollte.
Peter Longerich legt diese komplexe Gemengelage mit all ihren Verknüpfungen und
Gegensätzen fundiert und detailliert dar. Und er schließt mit einem erhellenden Fazit zu
den Folgen des Krisenjahres 1923, das diese komplexe Chronik zu einem Standardwerk zum
Thema macht.
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