IAN McEWAN: LEKTIONEN
Ian McEwan zählt seit langem zu den größten Romanciers unserer Zeit und immer
wieder hat er markante aktuelle Themen in den Mittelpunkt gestellt. Sein 17. Roman unter
dem Titel Lektionen erscheint als der normalste und doch zugleich nicht
weniger als sein Opus Magnum.
Ein ganzes Leben erzählt McEwan hier entlang der Vita von Roland Baines. Der hat eingangs
ein eindrückliches Erlebnis mit eben elf Jahren, als seine ebenso kalte wie schöne
Klavierlehrerin Miriam Cornell ihn beim Unterricht für Fehler handgreiflich züchtigt.
Sein besonderes Problem: Ungehorsam widersprach seinem Naturell. Was aber auch
in den krass geänderten Lebensumständen begründet lag, denn nach unbeschwerten
Kindertagen in Libyen, wo sein Vater als britischer Offizier diente, hatten ihn die Eltern
abrupt in die englische Heimat und hier in ein Internat abgeschoben.
Nicht nur hier fließen autobiografische Züge McEwans in diesen Lebensroman ein, der den
oft schlaflosen Roland mit Erinnerungen überströmt, die in Zeitsprüngen aufscheinen und
doch alle miteinander verknüpft sind. Die zeitlose Verortung ist dabei brillant gesetzt
und immer wieder beeinflussen die großen Weltereignisse zufällig oder auch schicksalhaft
das Leben sämtlicher Protagonisten.
Wie die Kuba-Krise von 1962, die den jetzt 14-Jährigen mit Todesangst erfüllt. Hatte er
Miss Cornell lange gemieden, folgt er nun mit vagen Vorstellungen der Einladung in ihr
Haus. Und es kommt zu einem prägenden Erlebnis, als die zehn Jahre ältere Frau ihn
verführt und zu ihrem Liebessklaven macht. Die Erinnerung daran sollte nie wieder
verblassen, doch der Traum so manch eines pubertierenden Teenagers hatte fatale
Begleiterscheinungen, denn die Schöne erweist sich als extrem obsessiv: Er konnte
nicht nicht widerstehen sein Gehorsam war der Tribut, den er zahlte.
Doch das Geschehen springt wie die Erinnerungen. Roland erlebt nach vielen Affären ein
echtes Liebesglück mit der deutschstämmigen Alissa Eberhardt. Das am Vorabend der
Atomkatastrophe von Tschernobyl völlig unerwartet und jäh zerbricht: sie verschwindet
über Nacht und lässt ihn mit dem kaum einjährigen Sohn Lawrence sitzen. Es sei nicht
seine Schuld, aber sie habe das falsche Leben gelebt, so ihre lapidare Nachricht auf einem
Zettel.
Der nächste Sprung macht verständlich, wie Rolands hohen Ziele nach und nach bröckelten
und er weder als Dichter, Jazzmusiker oder Komponist etwas erreichte. Und schon gar nicht
als Konzertpianist, trotz großen Talents, denn zu drastisch hatte er sich damals von
Miriam Cornell losreißen müssen, als diese ihn schließlich total an sich zu ketten
versuchte.
Kein Schulabschluss, keine ordentliche Ausbildung, stattdessen Jobs und nun als
alleinerziehender Vater ein bescheidenes Auskommen als Barpianist, Tennislehrer und
zuweilen Werbetexter. Entlang der Weltereignisse hält das Leben jedoch auch für ihn mit
zuweilen heftigen Erschütterungen neue Wendungen bereit.
Er erfährt Verwirrendes aus der Vergangenheit seiner Eltern, was ihm nicht nur
Halbgeschwister sondern für alle überraschend spät einen nie gekannten Bruder beschert.
Andererseits hört er, dass die wieder in ihrer Heimat lebende Alissa sich zur gefeierten
Bestsellerautorin entwickelt.
Alles ist mit allem verbunden und nicht nur, dass die Klavierlehrerin noch einen späten,
recht krassen Cameo-Auftritt hat, in den reiferen Jahren findet Roland in der unglücklich
verheirateten Daphne noch ein sanftes Glück. Auch wenn das ebenso brüchig bleibt wie so
vieles in seinem Leben. Das einerseits so wenig außergewöhnlich wie das von Millionen
Anderen ist und andererseits doch so viele eindrückliche Ereignisse und Verflechtungen
aufbietet, dass das Alles zu einem großartigen Ganzen wird.
Der Roman erzeugt eine ungeheure Sogwirkung dank der exzellenten Dramaturgie und die Prosa
mit manch funkelnden Sätzen (großes Lob an den Übersetzer!) ist ebenso grandios geraten
wie einmal mehr die überzeugenden Charakterzeichnungen. Fazit: wohl das persönlichste
Buch, das Ian McEwan je geschrieben hat, ganz gewiss aber eines der besten des Jahres.
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