JONATHAN FRANZEN:
CROSSROADS
Mit seinem neuen großen Roman Crossroads geht US-Erfolgsautor Jonathan
Franzen genau 50 Jahren zurück. Der erste Teil spielt hauptsächlich am 23. Dezember 1971
in einem Amerika, in dem es noch kein Internet, kein Musikfernsehen und keine alles
beherrschende Medien gibt. Dafür steckt die auf ihre Weise auch damals bereits zerrissene
Nation aber noch mitten im Vietnam-Krieg.
Im Mittelpunkt steht Russ Hildebrandt, Pastor der evangelischen First
Reformed-Gemeinde in New Prospect/Chicago, und seine Familie. Russ propagiert wie
schon früher auch in seinen Predigten den Pazifismus, erlebt in seiner Gemeinde jedoch
drückenden Frust. Seit der junge Kollege Rick hinzugekommen ist, wenden sich vor allem
die jüngeren Gläubigen ihm zu.
Noch schlimmer aber: Rick gründet die Jugendgruppe Crossroads, in der
Gottesdienste ganz anders praktiziert werden und zu intensiven Gruppenerlebnissen führen.
Doch der altbackene Russ fühlt sich nicht nur plötzlich als Außenseiter in seiner
eigenen Kirche, auch privat quält ihn eine typische Midlife-Crisis. Seine über die Jahre
und vier Kinder zur dicklich braven Pfarrersfrau mutierten Ehefrau Marion ödet ihn
maßlos an.
Da wurmt ihn nicht nur, dass er nie mit einer anderen Frau Sex hatte. Jetzt treibt ihn
auch noch eine unmögliche Verliebtheit um: die viel jüngere attraktive Witwe Frances
umgarnt er so offensichtlich, dass es auch in der Familie kaum noch übersehen werden
kann. Und Frances lässt seine Nähe zu, so dass es später sogar zu unbeholfenen
Intimitäten kommt.
Doch auch Marion hat wie so viele in dieser Familiengeschichte ohre Geheimnisse und bei
ihr sind es besonders stark unterdrückte Ereignisse aus den Jugendjahren. Da gab es eine
heftige Affäre mit einem verheirateten Mann bin hin zu Abtreibung und psychiatrischer
Behandlung. Alles hat Marion eisern verschwiegen, nun aber stacheln sie die Turteleien von
Ehemann Russ dazu auf, ihrer lange gepflegten warmen Mütterlichkeitswolke zu
entkommen.
Prompt besucht sie heimlich Therapiestunden und unterwirft sich einer gnadenlosen Diät
zum Abspecken. Verdruckst oder auch verquält sind jedoch auch ihre Kinder, jedes auf
seine Art. Der bisher so strebsame Clem lässt im Studium nach und daran hat seine
Freundin gleich doppelt schuld. Ihr Bruder muss in Vietnam kämpfen und dem als Student
freigestellten Clem wirft sie deshalb das Ausnutzen dieser Privilegien als unmoralische
Haltung vor.
Das wühlt den sensiblen 20-Jährigen nicht nur auf, es reizt auch sein Aufbegehren gegen
den pazifistischen Vater mit seiner pastoralen Autorität. So schreibt Clem an diesem 23.
Dezember 1971 einen Brief ans Musterungsamt. Darin erklärt er, er sei nicht länger
Student und stehe nun für den Militärdienst zur Verfügung.
Unter Druck gerät in diesen Tagen aber ebenso die 18-jährige Rebecca Hildebrandt. Sie
hat von Tante Shirley, Mutters exaltierter Schwester, ganz allein 13.000 Dollar geerbt,
soll sie jedoch mit ihren Geschwistern teilen. Zugleich ist sie diejenige, die sich bei
den beim Vater so missliebigen Crossroads sehr wohl fühlt und dort auch ihre
erste Liebe erlebt.
Wogegen Bruder Perry, vermutlich der Intelligenteste in der Familie, mit seinen 15 Jahren
insgeheim ein wirkliches schwarzes Schaf der Familie ist. Er hat es nicht nur ganz
mächtig mit Alkohol und Drogen, er vertickt diese sogar. Und pikanterweise auch an den
Sohn von Frances. Bleibt als einziges Unschuldslamm Brüderchen Judson, dessen Probleme
noch kindlichen Dimensionen entsprechen.
Wie sich hier nun ein Konflikt um den anderen aufbaut, wie Glaubensgrundsätze ebenso ins
Schwanken geraten wie Moral und Miteinander, das ist meisterhaft komponiert. Russ erweist
sich als der alternde weiß0e Mann, der über seine Verklemmtheit stolpert, während
Mutter Marion Abgründe offeriert. Sämtliche der exzellent gezeichneten Charaktere in
diesem so typischen Panorama einer amerikanischen Durchschnittsfamilie dieser Zeit
beweisen großes Talent zum Unglücklichsein.
Und das beschreibt Jonathan Franzen mit einer Melange aus Ironie, Witz und zuweilen
scharfer Satire. Ein opulentes Werk, dabei ist dies erst der Auftakt zu einer Trilogie,
deren Motto Ein Schlüssel zu allen Mythen lautet. Wie gewohnt, erzählt der
vielfach preisgekrönte Autor sehr kommerziell, das aber hochkarätig. Fazit: ein
Gesellschaftsroman von hohen literarischen Graden.
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