ALAN MIKHAIL: GOTTES SCHATTEN
SULTAN SELIM
Weit mehr als nur die Biografie zu einer zu Unrecht vernachlässigten und doch
weltgeschichtlich prägenden Herrscherpersönlichkeit ist Gottes Schatten. Sultan
Selim und die Geburt der modernen Welt von Alan Mikhail, Professor für Geschichte
an der Yale University.
Weit über die Person des als Gestrenger oder auch Grimmiger bezeichneten Selim I.
(1470-1520) spannt der Historiker den Bogen für die erste Globalgeschichte aus der
Perspektive des Osmanischen Reichs. Mikhail eröffnet sein Werk mit teils gewagten Thesen
über direkte Zusammenhänge zwischen dem Aufstreben der islamischen Großmacht der
Osmanen und der Entdeckung und Eroberung Amerikas durch europäische Mächte, allen voran
Spanien.
Der Historiker arbeitet nach dem holistischen Prinzip und verknüpft hier Kolumbus, die
spanischen Könige Anfang des 16. Jahrhunderts bis hin zu den Majas und der Einverleibung
Mexikos. Manche Thesen erscheinen zumindest kontrovers, doch auch wenn man ihnen nicht
folgen mag, mindern diese neuen Sichtweisen nicht die Darstellung der Bedeutung des
Osmanischen Reichs und insbesondere der dessen 9. Sultans für die globale Zeitenwende.
Die europäischen Mächte einschließlich der noch fragilen und eben erst von den Muslimen
befreiten spanischen Königreiche oder auch der Flickenteppich des Heiligen Römischen
Reichs waren zu jener Zeit nicht das Maß aller Dinge, wie es zumindest die westliche
Geschichtsschreibung üblicherweise darstellt. Die wahre Großmacht war das Osmanische
Reich im Mittelmeerraum, seit die Osmanen mit ihrem welterschütternden Sieg von 1453
Konstantinopel erobert und das Byzantinische Reich von der Landkarte getilgt hatten.
Der endgültige Aufstieg zu einer Weltmacht, die sich schließlich für Jahrhunderte über
drei Kontinente erstreckte, erfolgte jedoch erst durch Selim. Am 24. April 1512 wurde er
zum 9. Sultan, indem er seinen Vater Bayezid II. zum Thronverzicht zwang und auch seine
älteren Brüder beseitigte. Die zahlreichen Quellen zeichnen Selim als einen ebenso
frommen wie charismatischen Anführer, für den Grausamkeiten bei der Durchsetzung von
Zielen selbstverständlich waren.
Als innovativer Militärreformer sorgte er für die Voraussetzungen bis hin zum Aufbau
einer Seemacht für die baldigen Feldzüge. Da besiegte er nicht nur die östlich
herrschenden Safawiden, womit Persien als alter Rivale keine Rolle mehr spielte. Seinen
größten Triumph erkämpfte sich Selim dann 1516/17, als er die Mamluken vernichtend
schlug und damit ganz Ägypten unter seine Herrschaft bekam.
Hinzu kam, dass sich die gesamte arabische Halbinsel ihm unterwarf und er nun auch Herr
über die Heiligtümer Mekka und Medina war. Dies geschah im Jahr 1517, das ein Wendejahr
für die gesamte Weltgeschichte werden sollte. In auffälliger Parallelität stieß in
Europa der Mönch Martin Luther das Tor auf zu einer alles verändernden Reform des
Christentums. Dasselbe geschah aber auch durch Selim I., der sich als erster Sultan auch
zum Kalifen und damit als alleiniger Herrscher über die Heiligen Stätten des Islam
aufschwang.
Während Luther nach Mikhails Analyse als scharfes Argument gegen das verkommene Papsttum
auch den Islam anführte, setzte Selim auf die sunnitische Lehre seiner Religion und
verfolgte sie schiitische Irrlehre gnadenlos. Wogegen er Juden tolerierte und
sogar ausdrücklich in sein Reich einlud. Wo er im Übrigen auch als Reformer für einen
modernen Staat sorgte.
Nur acht Jahre dauerte seine folgenreiche Regentschaft, denn bereits 1520 verstarb er kaum
50-jährig vermutlich an der Pest. Das Osmanische Reich aber war in dieser kurzen Spanne
um fast das Dreifache auf nun 6.557.000 Quadratkilometer angewachsen und es stützte sich
ganz maßgeblich auf eine gewaltige Militärmacht.
Diese Hinterlassenschaft des ebenso durchsetzungsfähigen wie klugen Herrschers
begründete zugleich die weltpolitische Bedeutung dieses islamischen Weltreichs, die
Selims Nachfolger, sein Sohn Süleyman der Prächtige, in seiner langen
Regierungszeit zu dem Ruhm brachte, der Selims Leistung in der Geschichtsschreibung bisher
fast durchgehend zu Unrecht in den Schatten stellte.
Alan Mikhail versteht es, mit seiner rasanten Darstellungsweise zu begeistern und er
eröffnet manch neue Sichtweise. Fazit: trotz einiger gewagter Thesen eine starke
Biografie, die zugleich ein gewichtiges Stück Weltgeschichte in ein vermutlich
angemesseneres Licht stellt.
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# Alan Mikhail: Gottes Schatten. Sultan Selim und die Geburt
der modernen Welt (aus dem Amerikanischen von Heike Schlatterer und Helmut Dierlamm); 508
Seiten, 75 Abb., 24 Karten; C. H. Beck Verlag, München; 32
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)
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