ANDREAS PFLÜGER: RITSCHIE
GIRL
Mit seiner Trilogie um die blinde Sonderermittlerin Jenny Aaron erwies sich Schriftsteller
und Drehbuchschreiber Andreas Pflüger als einer der brillantesten deutschsprachigen
Thrillerautoren. Sein privates Interesse aber gilt seit langem den Untaten des
Nationalsozialismus und daraus fertigte er nun einen Politthriller, der seinesgleichen
sucht.
Ritchie Girl lautet der Titel in Anlehnung an die legendären Ritchie Boys.
Die gab es wirklich und ihr Name rührt her vom Ausbildungslager Camp Ritchie in Maryland.
Dort wurden vielfach gerade auch Emigranten, die aus Nazi-Deutschland geflüchtet waren,
als Verhörspezialisten und Nachrichtenoffizieren geschult. Manche klingenden Namen waren
darunter wie Stefan Heym und Klaus Mann.
Und eben auch Paula Bloom, die sich nach ihrem Geschichtsstudium 1943 dem ersten
Women's Army Corps dort anschloss. 1919 in Berlin als Tochter einer Deutschen
und des US-Geschäftsmannes Douglas Bloom geboren, wuchs sie in einer Villa am See auf und
besuchte das Französische Gymnasium. Als sie 1937 wegen ihrer jüdischen Freundin Judith
aber auch wegen eines Vorfalls in Verbindung mit entarteter Kunst massiv
Ärger mit den Nazis bekommt, nimmt sie Reißaus in die USA, wo die meisten Verwandten
leben.
Zum Auftakt des Romans kehrt Paula nun im April 1945 nach Europa zurück und gerät mit
dem ihr vertrauten Kollegen Sam Yeager in die Wirren der letzten Kriegstage in
Oberitalien. Sie sieht nicht nur mit eigenen Augen den gemeuchelten Mussolini, sie erlebt
auch die Gefangennahme des selbstgefälligen SS-Standartenführers Walther Rauff mit. Der
will wie sein Chef, SS-General Karl Wolff, einen Separatfrieden mit den Amerikanern
aushandeln, allein schon, um nicht den kommunistischen Partisanen anheim zu fallen.
Genau das aber ist auch eine Trumpfkarte in den kommenden Spielchen zwischen
Nazi-Verbrechern und Alliierten, denn der Kalte Krieg wirft bereits seine Schatten voraus:
Es schlägt, auf der Seite der Sieger wie der Besiegten, die Stunde der
geschmeidigen Männer. Wie Leutnant Paula Bloom dann gleich nach Kriegsende im Camp
King, dem Speziallager des CIC bei Frankfurt, hautnah und spannend als Tatsachenthriller
miterlebt.
Paula, die sich als Jüdin ausgibt, wo es nützlich erscheint, bekommt einen ersten
gallebitteren Geschmack dieser zynischen Auswahlstrategie zwischen Nazi-Verbrechern für
den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess (26. November 1945 bis 1. Oktober 1946) und
solchen die nützlich sind. Wo dann Paulas Vorgesetzter unter anderem zu Generalmajor
Reinhard Gehlen, Russland-Experte und später Gründer des BND, feststellt: Er mag
eine Ratte sein. Aber er ist unsere Ratte.
Was dann auch bei der Wiederbegegnung mit Walther Rauff gilt, dessen spezielles Verhör zu
einem ersten Höhepunkt des Romans wird. Wie ein roter Faden zieht sich dabei bis zuletzt
das nebulöse Schicksal Georg Melzers durch das Geschehen. Er war Paulas erste große
Liebe, sein Weg als angehender Polizist aber hat ihn offenbar in Wehrmachtskreise
geführt, denn als Offizier sah sie ihn flüchtig in Reihen der SS in Mailand wieder.
Als ganz entscheidendes Scharnier des gesamten Romans wirkt im Übrigen der verstorbene
Douglas Bloom, denn sein auch für die Tochter höchst zwielichtig wirkendes Treiben als
eine Art Lobbyist zwischen US- und Reichsinteressen eröffnet das Feld für ein
Stelldichein sämtlicher wichtiger Wirtschaftslenker, Nazi-Größen und sonstiger Promis.
Sie alle hat ja Paula dort erlebt, teils ganz privat. Mit diesen und ihren
Sprachkenntnissen hat sie beim Katz- und Mausspiel mit den hochrangigen Gefangenen eine
wichtige Rolle inne.
Die entscheidende und großartig dargestellte wird dann ihr Auftreten bei
einem besonders geheimnisvollen Häftling: Johann Kupfer, nicht nur nach eigenem Bekunden
der erfolgreichste Spion des gesamten Krieges. Ausgerechnet dieser österreichische Jude
will Sieben gewesen sein, der legendäre Geheimnisbeschaffer für den
deutschen Geheimdienst. Raffiniert kämpft er um seine Zukunft für die Alliierten
zu arbeiten oder an die Sowjets ausgeliefert zu werden. (Auch er wie die meisten
Protagonisten mit historischem Vorbild!).
Und immer wieder kommen auf geschickte Weise die hervorragend recherchierten Details ins
Geschehen und manche erscheinen aus heutiger Sicht grotesk oder pervers und sind doch
wahr. Aber auch manche Personenzeichnungen machen fassungslos oder überraschen, wie die
des völlig skrupellosen Allen Dulles, der als amerikanischer Mephisto keinerlei Scheu vor
der Rekrutierung übelster Massenmörder zeigt, wenn sie nur nützlich für US-Interessen
sind. Und man weiß ja, dass er später als CIA-Chef bedenkenlos Attentate und Morde an
missliebigen ausländischen Politikern anordnete.
Bei all den oft monströsen Offenbarungen bleibt Hauptfigur Paula jedoch stets präsent
als starker Charakter. Mag sie auch auf der richtigen Seite stehen, empfindet
sie doch wegen ihres Versagens um Jugendfreundin Judith tiefe Schuld. Und dann steuert das
Alles auf den 16. Oktober 1946 zu: die Urteile in Nürnberg sind gesprochen und nach
manchen Szenen aus dem Gerichtssaal werfen Paula und Sam nun einen abschließenden Blick
in den Abgrund sie werden Zeugen der ersten von 13 Hinrichtungen von
Nazi-Verbrechern.
Wer nun einen schrillen Thriller mit viel historischer Faktenhuberei befürchtet, sei
versichert: Andreas Pflüger hat hier ein auch literarisch brillantes Werk geschaffen mit
grandiosen Formulierungen und Dialogen und immer wieder faszinierenden Bildern. Zum Inhalt
stellt Bodo V. Hechelhammer, als Historiker ein Experte für Geheimdienst-Geschichte,
fest: Mit dem Kalten Krieg kam auch die kalte Amnestie.
Als Fazit dieses ungeheuer dichten authentischen Meisterwerks passt am Ende jedoch noch
besser Paulas grantige Meinung über das neue Deutschland und seine nützlichen Nazis:
Man sollte es in Falschen abfüllen und als Magenbitter verkaufen.
|