LUKAS RIETZSCHEL:
RAUMFAHRER
Jan, im Wendejahr 1989 geboren, lebt mit seinem wortkargen Vater in einer tristen
Einfamilienhaussiedlung am Rand der sächsischen Kleinstadt Kamenz. Er arbeitet als
Hilfskraft im nahen Krankenhaus, das im allgemeinen Niedergang der gesamten Region vor der
absehbaren Schließung steht.
Eines Tages bekommt Jan von einem Patienten, dem alten, einen Schuhkarton
voller Fotos, Briefe und anderer Dokumente. Sein vater habe es so gewollt, fügt dieser
Thorsten Kern als Begründung hinzu. Und das ist nun der Auftakt zu Lukas Rietzschels
zweitem Roman mit dem Titel Raumfahrer. Wie schon bei seinem vielgelobten
Debüt Mit der Faust in die Welt schlagen tritt der erst 27 Jahre alte Autor
damit als eine gewichtige literarische Stimme Ostdeutschlands auf.
Die titelgebenden Raumfahrer waren für Jan seine Eltern, irgendwie schwebend und nicht so
richtig in der gesamtdeutschen Realität angekommen. Wo der Vater als Frührentner
halbwegs ein Wendegewinner war, stürzte die Mutter ab und starb nach der Scheidung sogar
im Suff. Die Fotos und Dokumente vom Alten aber interessieren Jan dennoch
nicht, obwohl sie angeblich ganz viel mit der Vergangenheit seiner Familie zu tun haben.
Bis der Vater wegen Jans Nachfragen ausgesprochen säuerlich reagiert. Damit ist Jans
Neugier geweckt und tatsächlich entdeckt er unter anderem Fotos aus Mutters jungen Jahren
eine sehr attraktive aber offenbar auch recht freizügige Frau. Was aber hatte sie
mit Günter Kern zu tun? Da eröffnet sich eine weitere Handlungsebene, denn Günters
Bruder Hans-Georg Kern flüchtete seinrzeit rechtzeitig vor dem Mauerbau in den Westen und
wurde unter seinem Künstlernamen Georg Baselitz ein weltberühmter Maler.
Günter dagegen gelang der Absprung nicht mehr rechtzeitig und so blieb ihm nur ein sehr
schlichtes Leben als Fahrlehrer in der DDR. Den die Stasi allerdings wegen der
Westkontakte mit dem berühmten Bruder unter intensive Beobachtung bis hin zu
untergejubelten IMs nimmt. Gibt es hier eine Verbindung zwischen Günter Kern und Jans
Mutter? Und hatten sie und Jans Vater mit diesen so typischen DDR-Machenschaften von Lüge
und Verrat zu tun?
Über die verschiedenen Zeitebenen verknüpfen sich die Handlungsstränge immer mehr und
halten den Spannungsbogen hoch. Die Atmosphäre der Tristesse in der abgehängten Region,
in der selbst all die nach der Wende erstellten Gewerbegebiete und Supermärkte längst
Glanz und Wirkung verloren haben, zieht sich wie ein roter Faden durch das Geschehen.
Lukas Rietzschel versteht es, in dem komplexen Gefüge die Spannung mit lakonischer Prosa
hochzuhalten und er überzeugt auch mit diesem Konflikt gleich zweiter irgendwie
sprachlosen systemgeschädigten Generationen.
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