JONATHAN LICHTENSTEIN: ZURÜCK
NACH BERLIN
Mit den sogenannten Kindertransporten wurden über 10.000 Kinder, die bei den Nazis
gemäß den Nürnberger Gesetzen als jüdisch galten, vor dem Holocaust gerettet. Gleich
nach der Reichsprogromnacht im November 1938 wurde die Hilfsaktion in Großbritannien
gestartet und bis zum Kriegsausbruch fortgesetzt.
Was aber macht eine solche Einbahn-Kinderlandverschickung, die in den meisten Fällen mit
einem Nimmerwiedersehen verbunden war, mit den unmittelbar Betroffenen? Jonathan
Lichtenstein hat dazu nun einen einzigartigen biogrfaischen Roman vorgelegt. Zurück
nach Berlin ist er überschrieben und der Untertitel Wie mein Vater mit mir in
seine Vergangenheit reiste stellt klar, dass hier Tatsachen zugrunde liegen.
Hans Eugen Lichtenstein war eben 12 Jahre alt, als er am 29. Juli 1939 in Berlin von
seiner Mutter in den Zug gesetzt wurde. Sie versicherte ihm, es seine eine Ferienreise.
Stattdessen strandet er auf Dauer in England, wird zwar durch Hilfsorganisationen so weit
unterstützt und gefördert, dass er sogar Medizin studieren kann. Die Entwurzelung und
die Einsamkeit aber haben ihm unheilbare Traumata eingepflanzt.
Sohn Jonathan Lichtenstein als renommierter Dramatiker und Professor für Drama an der
University of Essex versteht es exzellent, die Geschichte seines Vaters mit seiner eigenen
und der dieser Reise am Ende eines langen Lebens zu verknüpfen. Als junger Arzt lernte
der Vater seine Frau kennen, die dann jedoch fast lebenslang ebenso wenig auf der Kindheit
und Jugend von Hans Lichtenstein erfuhr.
Ein Tabuthema, bei dem gewisse Animositäten wie der Hass auf Volkswagen und die Abscheu
gegen Mercedes-Autos eher skurril wirken. Um so mehr stachen Eigenwilligkeit und Eigensinn
in manchen Lebensbereichen heraus, die darin gipfelten, dass der gewissenhafte und
beliebte Arzt in der Familie eher mit Härte und Wortkargheit regierte. Wir lebten
als Familie in einer uns fremden, unerklärlichen Welt, die geprägt war von Nichtgesagtem
und von unausgesprochenen Verlusten.
Das artete zuweilen in erratische Ausraster aus, wenn er zum Beispiel mitsamt seinen
Lieben halsbrecherische Manöver mit dem Familienauto fabrizierte. Und Jonathan litt
offenbar besonders unter der Distanz und den Attitüden des Vaters. Was nicht nur die fast
lebenslange Kluft zwischen den Beiden erklärt sondern auch psychosomatische Leiden und
sogar Suizidanwandlungen in jungen Jahren.
Zu denen sich schließlich auf der gemeinsamen Reise nach Berlin herausstellte, dass sich
auch Hans Lichtensteins Vater und Großvater sowie ein Onkel das Leben genommen hatten.
Sie allerdings als direkte in direkter Folge zu Demütigungen des heraufziehenden
Holocaust. Für Sohn Jonathan aber brauchte es Jahrzehnte, um wenigstens ansatzweise zu
verstehen, was sein Vater damals erlebt hatte.
Und es ist ein zutiefst bewegender Roadtrip, den er dann 2015 mit dem greisen Vater
entlang der einstigen Reiseroute über Holland bis Berlin unternimmt. Schon unterwegs
bricht der alte Herr immer öfter das so beharrliche Schweigen all der Jahrzehnte. Hier
gelingen wunderbar eingewobene Dialoge, mal wortkarg trocken, mal von knorrigem Humor und
häufig sehr berührend.
Erinnerungen kommen auf und auch detaisl, die wenig bekannt sein dürften. Plötzlich
kommen Erlebnisse an den Tag, die selbst bei den sehr seltenen Besuchen aus der jüdischen
Familie allenfalls angerissen wurden. In Berlin findet sich Hans Lichtenstein auch nach so
langer Zeit erstaunlich gut zurecht. Er zeigt Jonathan das Haus, in dem er aufgewachsen
ist, und das noch immer existierende Café mit dem speziellen Baumkuchen. Im Jüdischen
Museum dann entdeckt er Bilder vom Lederwarengeschäft seiner Eltern, mitsamt den
Zerstörungen der soeben durchlittenen Reichsprogromnacht.
Wieder daheim in Wales erweisen sich die Auswirkungen dieser Reise als segensreich für
die Traumata beider. Und der Vater erscheint so wie befreit von den allnächtlichen
Alpträumen, dass er in seinen letzten Jahren wieder zu richtigem Schlaf findet. Auch das
Ende dieses Reiseberichts der besonderen Art ist zutiefst bewegend und man muss die
sensible Übersetzung durch Thomas Brovot loben, die all die Nuancen dieses
Tatsachenromans exzellent herüberbringt.
Fazit: eine ganz besondere Vater-Sohn-Geschichte und zugleich ein Einblick in das Kapitel
der Kindertransporte, wie es ihn noch nie gegeben hat. Dieses Buch ist eine Bereicherung
und wohl unvergesslich.
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