EUGENE ROGAN: DER UNTERGANG
DES OSMANISCHEN REICHS
Bei den vielfältigen Publikationen zum Ersten Weltkrieg steht eine Sichtweise
weites5trgehend im Mittelpunkt: das große Ringen an der Westfront, das ebenfalls heftige
Ringen an der russischen Front und quasi als zusätzlicher aber eher zu
vernachlässigender Schauplatz der im Nahen und Mittleren Osten.
Diese Geschichtsschreibung erfolgt zudem fast durchweg aus westlicher Sicht und stützt
sich auch faktenmäßig aus entsprechenden Quellen. Was jedoch von der Gewichtungher der
historischen Bedeutung nicht gerecht wird, denn dort im Südosten sorgten die Auswirkungen
des Ersten Weltkriegs für solch tiefgreifende Veränderungen, dass sie bis in die
Gegenwart das politische Weltgeschehen prägen.
Um so verdienstvoller ist das große Sachbuch von Eugene Rogan unter dem Titel Der
Untergang des Osmanischen Reichs. Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten 1914-1920. Der
Direktor des Middle East Centre an der Universität von Oxford bringt dazu einzigartige
Voraussetzungen mit: im Mittleren Osten aufgewachsen, spricht er Türkisch und Arabisch.
Der Historiker schreibt nicht nur aus der Perspektive des Osmanischen Reichs, er stützt
sich vor allem auf die von der westlichen Geschichtsschreibung fast völlig
vernachlässigten osmanischen und arabischen Quellen. Die teils allerdings auch in schwer
zugänglichen Archiven ruhen. Darüber hinaus zählt der US-Wissenschaftler zu den besten
Kennern des Nahen und Mittleren >Ostens und dessen Geschichte.
Vorauszuschicken ist im Übrigen die Tatsache, dass am Beginn des Ersten Weltkriegs drei
Großmächte miteinander in den Krieg taumelten, die diesen nicht als Reiche überstanden:
das Deutsche Kaiserreich, das österreichisch-ungarische Kaisertum und das russische
Zarenreich. Das passierte jedoch als viertem Imperium auch dem Osmanischen Reich.
Das allerdings noch keine Kriegspartei war, als die europäischen Gro´mächte in den
Krieg zogen. Der kranke Mann am Bosporus war vielmehr seit Beginn des
Jahrhunderts kriegszerrüttet durch den Türkisch-Italienischen Krieg, der das Reich die
Cyrenaika (heute Libyen) gekostet hatte. Noch schlimmer hatten sich die beiden
Balkankriege weniger Jahre vor dem großen Krieg ausgewirkt. Hatte das Osmanische Reich in
seinen 600 Jahren des Bestehens einst bis weit nach Europa hineingereicht und sogar
zweimal Wien belagert, hatten sich inzwischen große Teile wie Griechenland, Bosnien,
Serbien, Albanien und Bulgarien die Unabhängigkeit erkämpft.
Noch immer aber war der vielsprachige Vielvölkerstaat ein Imperium, das heutige Staaten
wie Irak, Syrien, Libanon, Jordanien, Saudi Arabien und Israel und rein nominell
auch Ägypten umfasste. Doch die politisch herrschenden Jungtürken fürchteten aus
gutem Grund eine Zerschlagung des Reichs durch die christlichen Großmächte
Großbritannien, Frankreich und Russland. Die machten bereits Pläne zur territorialen
Aufteilung und zugunsten des Zarenreichs gab es sogar das Abkommen über
Konstantinopel und die Meerengen.
Entsprechend freudig wurde das Deutsche Kaiserreich als Bündnispartner samt
militärischer Unterstützung empfangen. Als dennoch vermeintlich leichte Beute versuchten
die Alliierten dann Anfang 1915 als Auftakt zur Eroberung Konstantinopels die Invasion der
Halbinsel Gallipoli. Was bekanntlich zu einem der blutigsten Ringen des gesamten
Weltkriegs mit rund 500.000 Opfern und der schmählichen Niederlage der Westmächte wurde.
Doch das Osmanische Reich muzsste darüber hinaus einen Vielfrontenkrieg füghren. Die
Russen eroberten weite kaukasische und anatolische Gebiete, im Südosten wurden die Briten
erst vor Bagdad gestoppt und auf der arabischen Halbinsel waren es die Briten und vor
allem ab 1916 der Arabische Aufstand der dortigen Stämme mit dem legendären
Lawrence of Arabia als britische Geheimwaffe die das Osmanische Reich
aufrieben.
Den Völkermord an den Armeniern und Assyrern mit vermutlich über einer Million Opfern
thematisiert der Historiker in bemerkenswerter 'Weise mit manch weniger beklannten
Hintergründen. Außer Frage steht, dass es expilizite Befehle für den Genozid aus den
Reihen der herrschenden Jungtürken gab. Deutlich wird aber auch das zweifelhafte
politische und teils auch militärische Verhalten der Armenier, das bis zur offenen
Unterstützung der Russen ging. Was keinen Genozid rechtfertigen kann, den Hass der
türkischen Osmanen jedoch verständlicher macht.
Während Briten und Franzosen bereits vor Kriegsende im Sykes-Picot-Abkommen die künftige
Aufteilung des Osmanischen Reichs festlegten, erlebten die Osmanen Ende 1917 eine
unerwartete positive Wendung: die Oktoberrevolution fegte das Zarentum hinweg und Russland
schied sofort als Kriegsgegner aus. Dass das Osmanische Reich nach dem Kriegsende dennoch
stürzte, war dann nicht aufgrund der bitteren Niederlage sondern das Resultat der
Friedensbedingungen.
Wie bereits Österreich-Ungarn sollte aus das Osmansiche Reich völlig zerschlagen und in
viele Nachfolgestaaten aufgelöst werden. Der Großwesir unterzeichnete diesen
drakonsichen Friedensverterag von Sèvres, hatte jedoch nicht mit dem Auftstnd der
Türkischen Nationalbewegung unter dem Gallipoli-Helden Mustafa Kemal Pasche, dem
späteren Atatürk, gerechnet.
Der akzeptierte den Verlust der ohnehin abtrünnigen arabischen Gebiete, erkämpfte sich
für die Türkei bis 1922 den vollständigen Sieg über alle fremden Armeen in Anatolien.
Die imperialen Aufteilungen des Nahen und Mittleren Ostens durch die Alliierten im
Nachgang des Ersten Weltkriegs aber zementierten kaum lösbare Konflikte bis auf den
heutigen Tag.
Eugene Rogan schreibt all dies multiperspektivisch von den verschiedenen Fronten und macht
diese Geschichtsschreibung zu einem für jueden historisch Interessierten hochspannenden
und außerordentlich erhellenden Lektüre, die auch das Elend in den Schlachten und das
unsägliche Leiden einfacher Soldaten in Worte kleidet. Fazit: ein brillantes Sachbuch und
wohl das Non-plus-ultra zum Thema.
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