PHILIPPE SANDS: DIE
RATTENLINIE
Er starb, weil er so gern schwamm. Das ist das schlichte Resümee, das
Philippe Sands zum mysteriösen Tod des Alfredo Reinhardt am 13. Juli 1949 im Santo
Spirito Hospital in Rom zieht. Der Weg bis zu dieser Feststellung aber ist komplex,
spannend und vor allem beruht alles auf intensiven achtjährigen Recherchen.
Weshalb das Ergebnis auch als seriöses Sachbuch unter dem Titel Die Rattenlinie.
Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit erschienen
ist. Philippe Sands ist bekannt als Menschenrechtsanwalt beim Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag und fungiert hauptberuflich als Direktor des Centre for
International Courts and Tribunals am University College London.
Als er für seinen preisgekrönten Bestseller Rückkehr nach Lemberg
recherchierte, jener Stadt, in der er im Zweiten Weltkrieg den größten Teil seiner
jüdischen Vorfahren verlor, stieß er auf die ungeklärte Vita von Otto Wächter
(1901-1949), der nach der Eroberung Polens durch die deutsche Wehrmacht 1939 zunähst
NS-Gouverneur von Krakau und ab 1942 von ganz Galizien wurde.
Als SS-Gruppenführer und zuletzt im Rang eines Generalleutnants der Polizei war er
verantwortlich für weit über 100.000 ermordete Menschen. Und gehörte nach Kriegsende zu
den höchstrangigen Kriegsverbrechern, denen die Flucht gelang. Was Sands darüber
herausfand, liest sich wie ein Roman und ist doch weitestgehend gesicherte Wahrheit.
Geboren wurde Otto Freiherr von Wächter, so sein ursprünglicher Name, in eine
hochangesehene österreichische Familie. Den Nazis schloss er sich bereits 1923 an und
schon 1932 trat er in die SS ein. Im selben Jahr heiratete der Charlotte, eine
Fabrikantentochter, die genauso überzeugt vom Nationalsozialismus war wie er. Diese Ehe
war nicht nur mit sechs Kindern gesegnet, sondern auch von Leidenschaft und Innigkeit
geprägt, wie die Chronik mit erstaunlichen Details belegt.
Zu verdanken ist die Fülle an Fakten und Details dem Umstand, dass der Autor bei seinen
Nachforschungen 2012 auf Wächter-Sohn Horst stieß. Der wollte entgegen aller
Erkenntnisse nicht an die Schuld seines Vaters glauben, andererseits gab er Sands die
völlige Freiheit, den reichen Nachlass seiner Mutter auszuwerten.
In dem arg verfallenen Schloss, das Horst mitsamt diesem Inhalt von seiner Mutter geerbt
hatte, fanden sich unzählige Ordner, Tagebücher, Fotos und andere Belege über das
private und auch Teile des beruflichen Lebens der Wächters. Charlotte Wächter hatte
zeitweise selbst mit den Kindern in den besetzten Gebieten gelebt, auf großem Fuß und
nie schüchtern, wenn es um Ansprüche auf Kunstwerke und dergleichen für eigene Zwecke
ging.
In der Nachkriegspresse wurde Otto Wächter als einer der schlimmsten Kriegsverbrecher
identifiziert und es wird offenbar, dass seine Ehefrau von den Massenhinrichtungen und wie
seine Unterschrift Menschen zu Freiwild degradierte, recht gut informiert war. Dazu ist
vom 8. Mai 1945 anlässlich der Kapitulation die betrübte Frage überliefert: Ist
nun wirklich alles zu Ende, was wir so schön aufbauen wollten?
Otto Wächter aber war da längst erfolgreich untergetaucht und hauste zunächst in den
österreichischen Alpen. Während sein einstiger Chef, Generalgouverneur Hans Frank und
etliche andere hohe SS-Schergen vorm Nürnberger Militärgerichtshof abgeurteilt und
hingerichtet wurden. Spätestens ab Herbst 1948 trafen sich die Eheleute heimlich, immer
noch innig verbunden.
Will er überleben, hilft jhedoch nur die Flucht. Und die will auch er auf der legendären
sogenannten Rattenlinie bewerkstelligen. Wie unter anderem KZ-Arzt Mengele und
Holocaust-Organisator Eichmann will sich auch Wächter auf geheimen Kanälen des Vatikan
nach Südamerika schleusen lassen. Tatsächlich gelangt er als anonymer Bewohner ins
Kloster Vigna Pia in Rom und genoss sogar ein bescheidenes Wohlleben unter dem Schutz des
umstrittenen österreichischen Bischofs Alois Hudal.
Dieser katholische Würdenträger sorgte für den Schutz so mancher untergetauchter
Nazi-Größen. Als Fluchtpapiere galten insbesondere vom Vatikan ausgestellte
Rotkreuz-Ausweise und die nötigen Geldmittel soll angeblich Papst Pius XII persönlich
beigesteuert haben. Wächter allerdings kam nicht mehr in den Genuss dieser speziellen
Barmherzigkeit, denn noch während der Wartezeit erkrankte er schwer.
Mönche brachten ihn als Alfredo Reinhardt ins Santo Spirito Hospital. Wenige
Tage später erlag er an rätselhaften Symptomen. Viele Jahre später kam der Verdacht
auf, Wächter sei vergiftet worden. Nach den Recherchen des Autors aber raffte ihn sehr
wahrscheinlich eine Leptospirose hin, die er sich vermutlich beim Schwimmen im stark
verschmutzten Tiber zugezogen hatte.
Diese spannende Spurensuche eröffnet einerseits verstörende Persönlichkeitsbilder des
SS-Offiziers und seiner bis zu ihrem Tode 1985 überzeugten Nazi-Ehefrau. Andererseits
bieten auch die schändlichen Machenschaften der kirchlichen Helfershelfer so manch
überraschende Erkenntnis. Fazit: ein fesselndes Sachbuch, das in monströse menschliche
Abgründe schauen lässt.
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