JULIA VOSS: HILMA af
KLINT
Die Versuche, die ich unternommen habe, werden die Menscheit in Erstaunen
versetzen. Das sagte die Ausnahmekünstlerin Hilma af Klint (1862-1944) im
Bewusstsein dessen, dass ihr Schaffen Jahrzehnte zu früh kam, um verstanden zu werden.
Welch eine Sensation da in der Tat auf die Öffentlichkeit wartete, stellte die
Kunsthistorikerin Julia Voss vor rund zehn Jahren fest, als sie erstmals Bilder aus dem
mit über 1.000 Arbeiten gewaltigen Lebenswerk der schwedischen Malerin sah. Jahrelange
Recherchen und die intensive Auswertung der 124 hinterlassenen Notizbücher mit 26.000
Seiten für die die Honorarprofessorin an der Lauphana Universität in Lüneburg
eigens Schwedisch erlernte! - wurden zur Grundlage der erste Biographie zu dieser
Ausnahmeerscheinung der Kunstgeschichte.
Die Menschheit in Erstaunen versetzen. Hilma af Klint lautet der Titel und das
umfassende Buch offenbart Erstaunliches für die gesamte Kunstwelt. Da galt Wassiliy
Kandinsky seit jeher quasi als Erfinder der ungegenständlichen Malerei, nachdem er sein
erstes abstraktes Werk 1911 geschaffen hatte. Einige weibliche Maler aber hatten da
bereits Derartiges aufzuweisen und Hilma af Klints Beginn der abstrakten Malerei datiert
gar von 1905.
Und diese Tochter eines adeligen Marineoffiziers war keine Amateurmalerin, denn sie hatte
eine akademische Kunstausbildung. Als junge Erwachsene absolvierte sie den erst zweiten
Studienjahrgang von Frauen, die überhaupt an der Königlichen Akademie der freien
Künste in Stockholm zugelassen wurden, von 1882 bis 1887 erfolgreich. Doch schon
zuvor hatte die ebenso selbstbewusste wie freisinnige af Klint Porträtmalerei an der
Kunsthochschule studiert.
Einen entscheidenden Schub hin zur ungegenständlichen Malerei löste ihre Hinwendung zum
Spirituellen aus. Schon 1896 hatte sie mit vier Freundinnen einen spirituellen Zirkel
gegründet und es waren jene höheren Mächte, wie sie es nannte was
Kandinsky als Hang zum Geistigen titulierte und später allgemein als das Unbewusste
bezeichnet wurde die in ihr Schaffen einflossen. Mediale Praktiken, die
Beschäftigung mit der aufkommenden Theosophie und auch die Lehren des von ihr verehrten
Rudolf Steiner prägten den Wandel weg vom naturalistischen akademischen Werkverständnis.
Es sei eine symbolisch-abstrakte Darstellung der Vereinigung des weiblichen und des
männlichen Prinzips auf geistiger Ebene entstanden, so hat es Julia Voss aus den
Aufzeichnungen in den Notizbüchern entnommen. Und Hilma af Klint nahm gewissermaßen die
gesamte Epoche dieser künstlerischen Avantgarde vorweg. Damit sei sie nicht weniger als
die Pionierin der Abstraktion, schließt die Kunsthistorikerin daraus.
Doch die Künstlerin, die über 1000 Werke schuf und schon früh auch vor
überdimensionierten Bildern nicht zurückscheute, war sich bewusst, dass ihr Schaffen zu
früh kam, um auf Verständnis zu stoßen. Das bremste sie weder in der Innovation noch im
unermüdlichen Fortfahren. Allerdings entschied sie in weiser Voraussicht, dass ihre
Gemälde der Öffentlichkeit frühestens 20 Jahre nach ihrem Tod vorgestellt werden
dürften.
All die von ihr so einer verständigeren Nachwelt vorbehaltenen Arbeiten kennzeichnete sie
mit +x. Als diese dann viel später tatsächlich gezeigt wurden, stießen sie
dennoch seitens der Kunstwelt auf Ablehnung. Erst eine große Retrospektive in Stockholm
im Jahr 2013 öffnete den Weg zur allmählichen Anerkennung und dann kam 2018 die
umfassende Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum. Und Hilma af Klint sorgte für den
größten Kassenerfolg in der Geschichte dieses Museums und rückte sie endlich auf den
ihr gebührenden Rang in der Malerei.
Julia Voss hat den Weg der innovativen Künstlerin bis in die Tiefen des spirituellen
Hintergrunds ihres Denkens und Schaffens ergründet und mit feiner zurückhaltender
Analyse so eingehend und anschaulich dargestellt, dass ihre Biografie zu Recht für den
Leipziger Buchpreis 2020 nominiert wurde. Und was den Titel des Buches angeht: diese
Künstlerin galt es wirklich endlich zu entdecken.
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