ROBERT GERWARTH: DIE GRÖßTE
ALLER REVOLUTIONEN
Überzogen erscheint die euphorische Aussage des liberalen Berliner Journalisten Theodor
Wolff am Tag danach, dass die Zerschlagung des deutschen Kaiserreichs im
November 1918 die größte aller Revolutionen gewesen sei. Aber außerordentlich
folgenreich war sie auf jeden Fall und mit einer Hauptphase vom Ausbruch bis zum Erfolg
innerhalb weniger Tage ungewöhnlich kurz.
Der deutsche Historiker Robert Gerwarth, der als Professor für Moderne Geschichte am
University College in Dublin lehrt und auch Gründungsdirektor des dortigen Zentrums für
Kriegsstudien ist, hat sich eingehend mit dem Sturz von Kaiser Wilhelm II. und den Folgen
befasst. Unter dem Titel Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der
Aufbruch in eine neue Zeit stellt er die Ereignisse jedoch auch in den europäischen
Zusammenhang.
Im Gegensatz zu fast allen Revolutionen der Geschichte begann diese nicht im Machtzentrum
des betroffenen Staates sondern an der Peripherie. Während das Heereskommando bereits die
Niederlage nicht mehr leugnete und für Friedensverhandlungen sondiert wurde, hegte die
Admiralität der bis dato seit über zwei Jahren nur noch im Hafen dümpelnden
Hochseeflotte einen letzten großen Angriff gegen England, um ehrenvoll
unterzugehen.
Nachdem am 30. Oktober in Wilhelmshaven die Matrosen mit wenig Sinn für einen
überflüssigen Heldentod das Auslaufen durch Massenstreiks verhindert hatten, machten die
überheblichen Admiräle den entscheidenden Fehler, als sie das aufmüpfigste Geschwader
zur Beruhigung ins ohnehin proletarische Kiel verlegte. Dort entzündete sich die
Rebellion endgültig und bereits am 4. November war aus der spontanen Antikriegsbewegung
die deutsche Revolution geworden. In Windeseile verbreitete sie sich im ganzen
Reich, in München wurde der König in die Flucht geschlagen und Bayern zum ersten
republikanischen Staat im Reich.
Während dann in Berlin die Spartakisten zum Generalstreik aufriefen, gab Reichskanzler
Prinz Max von Baden am 9. November um 12 Uhr die noch gar nicht zutreffende Abdankung des
Kaisers bekannt. Doch die Dynamik war unaufhaltsam und als der SPD-Politiker Philipp
Scheidemann um 14 Uhr vor zehntausenden Berlinern die Republik ausrief, war das
Kaiserreich Geschichte.
Historiker Gerwarth schildert dazu ebenso lebendig wie detailliert, wie Friedrich Ebert,
Chef der Sozialdemokraten und Mitglied der letzten kaiserlichen Regierung, darum kämpfen
musste, die revolutionäre Energie zu kanalisieren. Zu bedrohlich war das
Beispiel der russischen Revolution, die seit einem Jahr wütete und mit Chaos und
Rätesystem Schrecken verbreitete. Ebert, so angefeindet er auch von rechts wie von links
war, habe dennoch das Kunststück fertig gebracht, Deutschland in eine
parlamentarisch-demokratische Ordnung mit einer liberalen Verfassung zu überführen, so
Gerwarth.
Bis 1919 hinein flammten immer wieder Konflikte zwischen moderaten und radikalen
Revolutionären auf, doch der Historiker macht deutlich, wie weitgehend gewaltarm und
unblutig die deutsche Revolution ablief. Wenn insbesondere Ebert und der vielfach
angefeindete Bluthund Gustav Noske für ihre harten Widerstand gegen
linksradikale Umtriebe wie auch für ihre Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften
gescholten wurden, so erfolgte dies eben gerade angesichts der rabiaten anderen
Revolutionen in ganz Europa.
Wohltuend nüchtern mit der Sicht aus dem Blickwinkel der Zeitgenossen von denen
viele namhafte mit zielführenden Zitaten zu Worte kommen und nicht aus der
üblichen Rückschau vom Ende des ersten demokratischen deutschen Staates durch die
Nationalsozialisten wird der Weimarer Republik ein weit besseres Zeugnis ausgestellt als
das bisher gewohnte. Danach war diese Republik eines auf keinen Fall: die immer wieder
geschmähte Totgeburt.
Vielmehr werden ausgesprochen fortschrittliche Gesetze verabschiedet, das Frauenwahlrecht
und die Tariffreiheit eingeführt. Die Weimarer Republik war trotz linksextremer Umtriebe
und reaktionärer Freischärler-Truppen ein relativ stabiler und vergleichsweise
langlebiger postimperaler Nationalstaat. Gerwarth stellt als Resümee fest: Ende
1923 war das Scheitern der Demokratie weit unwahrscheinlicher als ihre
Konsolidierung.
Er betreibt aber keine Spekulationen über versäumte Möglichkeiten oder offensichtliche
Geburtsfehler wie die ungesunde Machtfülle für den Reichspräsidenten. Fazit: ein
Meisterwerk moderner Geschichtsschreibung, das dank objektiver Gewichtungen wie auch der
Einbeziehung der europäischen Gesamtlage einen unverstellten Blick auf die deutsche
Revolution und die damalige Offenheit der Zukunft ermöglicht.
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