NEAL SHUSTERMAN: KOMPASS OHNE
NORDEN
Neal Shusterman hat solch packende Romanreihen wie die Endzeit-Saga Vollendet
und die unheimliche Scythe-Serie verfasst. Ein solch persönliches Werk wie
Kompass ohne Norden aber fesselt auf ganz andere Weise, zumal der Autor im
Vorwort erklärt, dass sein eigener Sohn Brendan das Vorbild war.
Hier nun erzählt dessen 15-jähriges Pendant Caden Bosch seine Leidensgeschichte mit
erschreckender Realitätsnähe. Wie er immer öfter die Verbindung zwischen seiner
wirklichen Welt und der ganz anderen in seinem Kopf verliert. Es sind dunkle Abgründe, in
die er abrutscht, und die verbreiten Schrecken. Der Verstand gaukelt anderes vor, als
tatsächlich ist oder passiert.
Zugleich wird Caden immer unentrinnbarer Gefangener seiner Wahnvorstellungen, die sein
gesamtes Verhalten zunehmend derartig beherrschen, dass er sämtliche Freunde verliert und
die Eltern ihn schließlich in eine psychiatrische Klinik bringen müssen. Da ist der Riss
zwischen Alltagswelt und der anderen bereits ein gierig gähnender Schlund, der ihn in die
Seewelt in tiefsten Ozeantiefen zieht.
Dort segelt er mit einem ungnädigen Kapitän Ahab auf einem seltsamen Segler und kann
dieser anderen, erschreckenden Ebene immer seltener entfliehen. Und schon gar nicht
erkennen, dass sie nur als albtraumhafte Fantasie existiert, der er wie eine Fliege im
Spinnennetz nicht zu entkommen vermag: Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen,
was du im nächsten Augenblick glauben wirst.
Schizophrenie, bipolare Störung, Zwangsstörungen, alles diagnostiziert man in der
Psychiatrie bei ihm. In den neun Wochen, die Caden insgesamt hier unter Fällen wie dem
seinen verbringt, wird es zunächst noch schlimmer, denn manche Medikamente erweisen sich
als wenig hilfreich, machen das Gehirn taub und vergrößern die ohnehin beängstigende
Verunsicherung noch mehr.
Nur die sehr romanhafte Parallelhandlung mit der abenteuerlichen Schiffsfahrt macht das
Lesen erträglich, zu deprimierend wäre sonst die Lektüre über diesen Teenager, dessen
Bewusstsein derartig gespalten ist, dass er sich selbst nicht mehr finden kann.
Panikattacken, Misstrauen und Kontrollverlustängste beherrschen und zersetzen jede wache
Minute und das machen nicht nur Cadens eigenen Worte spürbar.
Neal Shusterman hat auich zahlreiche Zeichnungen eingefügt, die Sohn Brendan in seinen
schlimmsten Zeiten angefertigt hat, und sie geben eine Ahnung der Qualen, der
Zerrissenheit. Um so mehr atmet man auch als Leser auf, wenn sich tatsächlich
Heilungserfolge andeuten, sich die Bewusstseinshälften allmählich wieder einander
annähern.
Auch das in den Worten des Ich-Erzählers Calden, die diesen so außergewöhnlich realen
Jugendroman auch dank eines subtilen Humors und der hervorragenden Übertragung ins
Deutsche zu einem großartigen, aber eben ernsten, anspruchsvollen Lesegenuss für
Teenager wie auch Erwachsene machen.
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