WOLF WONDRATSCHEK: GESAMMELTE
GEDICHTE
Vor 44 Jahren brachte Wolf Wondratschek seinen ersten Gedichtband heraus und wurde im Nu
zum bis heute unerreichten deutschsprachigen Lyrikstar. Die Gesamtauflage dieses ersten
Buches von mehr als 300.000 ist Rekord. Und es folgten weitere Bände, die selbst
Lyrikabstinente mit ihrer knackigen poetisch-realistischen Sprachmagie begeisterten.
Pünktlich zum jetzigen 75. Geburtstag hat der sperrige Kultautor von Geniestreichen wie
Früher begann der Tag mit einer Schusswunde nicht nur mit Selbstbild
mit russischem Klavier eine Art Spätroman herausgebracht, der grantige Kritiker des
Literaturbetriebs nahm auch eine überraschende Weichenstellung vor: er ging beim
Großverlag Ullstein unter Vertrag.
Die Vermutung liegt nahe, dass es ihm um sein teils sehr verstreutes und teils nicht
einmal einer breiten Öffentlichkeit offeriertes Gesamtwerk geht. Dazu liegt nun auch der
quasi zentrale Bestandteil seines ebenso radikalen wie emotionalen lyrischen Schaffens
vor: Gesammelte Gedichte. Das sind 13 Bändchen im Schuber vom legendären
Chucks Zimmer von 1974 bis zur jüngsten Ansammlung der Gedichte für
die linke Hand.
Und man muss wirklich kein Lyrikliebhaber sein, um sich in diesen freien Gedichten mit
Ergötzen festzulesen, von denen Wondratschek einmal sagte, sie seien keine zu lösenden
Rätsel. Stets ohne Tricks und doppelten Boden kommen sie mit eben jener respektlosen und
ungekünstelten Sprache, die er so grandios beherrscht. Vieles ist da einfach ungezähmt
und bisweilen auch pathetisch im Denken und Fühlen: Ich sitze kreidebleich wie ein
Verrückter nach dem Tod in Wartehalle 9.
Fazit: ein Schuber, gefüllt mit 13 x Kult. Oder um es mit den Worten von Marcel
Reich-Ranicki zu sagen: Es mag sein, dass von der deutschen Dichtung der 70er Jahre
nicht viel bleiben wird. Die Gedichte dieses Autors werden bleiben. Und das gilt
nicht nur für die aus diesem einen Jahrzehnt Wondratscheks.
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