RICHARD VINEN: 1968 DER
LANGE PROTEST
Die sogenannten 68er sind inzwischen in Rente. Vieles aus der Zeit ist vergessen, während
manche Ereignisse und Protagonisten längst verklärt wurden. Um so erhellender kann ein
wissenschaftlich unbestechliucher Blick 50 Jahre nach dem namensgebenden Jahr 1968 sein.
Den hat Richard Vinen unternommen, Professor für Geschichte am King's College London.
Bewusst lautet der Titel 1968 Der lange Protest. Biografie eines
Jahrzehnts. Der Historiker unterstreicht damit, dass jener Aufbruch nicht nur dieses
ein Jahr umfasste, wenngleich es aufgrund etlicher herausragender Ereignisse mit Recht der
Ära ihren Namen aufdrückte.
Vinen schreibt eine internationale Geschichte der 68er-Bewegung, die selbstredend weit
überwiegend nicht erst in diesem Jahr einsetzte. Zugleich beschränkt er sich auf
Westeuropa und Nordamerika, wo es durchweg wohlhabende Nationen waren, in denen sich der
Protest gegen demokratisch Regierungen richtete. Womit sich auch erklärt, dass der
unvergessene Prager Frühling von 1968 und dessen gewaltsame Niederschlagung durch die
Warschauer Pakt-Staaten im folgenden August nur indirekt Erwähnung finden.
Schon Mitte der 60er Jahre begann es zu rumoren und der Autor macht plausibel, warum die
Bewegung bis in die 70er Jahre reicht. In erster Linie war es ein Aufbegehren der jungen
Generation gegen überkommene Verhältnisse, das sehr unterschiedliche Komponenten hatte.
Im wesentlichen aber richteten sich die Proteste politisch gegen den Militarismus, den
Kapitalismus und die Übermacht der USA.
Womit der Vietnam-Krieg der Amerikaner ein Thema wurde, das in allen hier beschriebenen
Ländern mehr oder weniger intensiv und teils rabiat zu Protestmärschen und militanten
Aktionen führte. Zugleich macht Vinen die großen Unterschiede deutlich, wenn es zum
Beispiel in Großbritannien, Frankreich und Italien zumindest zeitweise zu Gemeinsamkeiten
zwischen radikalen Studenten und der Arbeiterschaft bzw. den Gewerkschaften kam. Wogegen
in Westdeutschland gerade das völlig unterblieb und radikale Linke wie der SDS oder
andere Gruppierungen in der sogenannten APO (Außerparlamentarische Opposition) selbst von
der im Grunde konservativen Arbeiterschaft teils sogar aggressiv angeprangert wurde.
Namen wie Dieter Kunzelmann, Bernd Rabehl und insbesondere Rudi Dutschke sind hier
unvergessene Stars der Studentenproteste. Die allerdings bereits 1967 eingesetzt hatten
und durch das Attentat auf Dutschke zu Ostern 1968 einen besonderen Zündpunkt hatten. Zu
dem in der Bundesrepublik aber auch noch Themen wie die Notstandsgesetze (30. Mai) und die
ständig präsenten Nachrichten aus Vietnam kamen.
Die auch in den USA für viel Aufruhr sorgten, wo Präsident Lyndon B. Johnson eine
besonders tragische Figur wurde. War er einerseits der Held, der die
Bürgerrechtsgesetzgebung gegen massive Widerstände durchsetzte, wurde er andererseits
wegen Vietnam zur großen Hassfigur. Und in den USA brodelten nicht nur Protestbewegungen
wie die Black Panther (Rassenfrage) und die terroristische Gruppe der
Weathermen, das Land wurde 1968 auch gleich durch zwei spektakuläre
politische Morde erschüttert: denen an Martin Luther King und Robert Kennedy. Beide
übrigens fast zeitgleich zu den gewaltigen und gewaltsamen Studentenprotesten in Paris.
In der Bundesrepublik wichen die Auslöser und die Themen der 68er-Bewegung allerdings
teils erheblich von denen der anderen westlichen Länder ab. Hier war die Elterngeneration
durch die Nazi-Zeit diskreditiert und schwieg. Zudem war die SPD als natürliche Heimat
der Arbeiterschaft durch das Godesberger Programm von 1959 zunehmend in die Mitte
gerückt. Die drastische Wandlung vom Massenprotest zu offenem linksextremen Terror wie
mit der Baader-Meinhoff-Bande bzw. der RAF kam dann aber erst in den 70er Jahren als Folge
auf.
Richard Vinen schildert und analysiert dies Alles auf wissenschaftlich objektive Weise,
also ohne Verklärung aber auch ohne Verurteilung mancher Ereignisse, Akteure oder
Gruppierungen. Natürlich kann ein solches Buch nicht die komplette Geschichte des
historisch wahrlich spektakulären Jahres umfassen, doch es öffnet den Blick auf
spannende Zusammenhänge und manches zu Unrecht Vergessene.
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