JÜRGEN NEFFE: MARX DER
UNVOLLENDETE
Hatte im letzten Jahr Das Kapital, das weltberühmte und ungeheuer
einflussreiche Großwerk von Karl Marx (1818-1883) sein 150-jähriges Jubiläum, so jährt
sich in diesem Jahr der 200. Geburtstag seines Schöpfers. Natürlich gibt es zu diesem
wohl folgenreichsten Denker der Neuzeit unzählige auch biografische Abhandlungen.
Dennoch ist die neue Biografie von Jürgen Neffe unter dem Titel Marx Der
Unvollendete nicht nur ein intellektuelles Meisterwerk, dieses hat auch
klarsichtige, ideologiefreie Analysen von großer Objektivität aufzuweisen. Hinzu kommen
manch überraschende Beweisführungten aber auch wenig bekannte Details. Wie der gerade
von einschlägiger politischer Seite gern verschwiegene private Sündenfall des Predigers
gegen die Ausbeutung der Arbeiterklasse, wo er doch selbst seine Hausangestellte
schwängerte, während Ehefrau Jenny auf Betteltour bei Verwandten weilte.
Neffe, der für seine exzellenten Biografien zu Einstein und Darwin vielfach ausgezeichnet
wurde, porträtiert Marx als Gesamtbild. Sein privates und berufliches Leben, die Herkunft
aus einer jüdischen Familie in Trier, die ideologisch wie auch existentiell so ungemein
wichtige Freundschaft zu Friedrich Engels, Entstehung und Bedeutung der wichtigsten
Schriften der Autor geht das Alles mit dem unverstellten Blick des
Naturwissenschaftlers und Publizisten in einer klugen Mischung aus wohlwollender
Bewunderung und kritischer Hinterfragung an.
Kein Kapital und keine revolutionäre Querdenkerei ohne das frühe Studium der
Hegelschen Gedankenwelt als Jurastudent. Doch dieser visionäre Denker ist kein
Revolutionär der Tat sondern der Worte, mit denen er Grundlagen legte, wie er sich denn
auch 1848 eben nicht in den Aufruhr nach Paris begab und auch vor einem zu frühen Beginn
der einst unumgänglich kommenden Weltrevolution warnte.
Neffe stellt heraus, wie sehr der hellsichtige Kapitalismuskritiker voraussah, wie weit
der bereits zu seinen Lebzeiten wuchernde Kapitalismus in der Zukunft ausufern werde.
Globalisierung, Finanzkrise, die immer weiter aufklaffende Schere zwischen Reich und Arm,
er sah es voraus. Gleichwohl gelingt dem Biografen die klare Beweisführung, dass dieser
Karl Marx niemans das begründet hätte, was unter dem Begriff Marxismus sein
Bild in der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Einordnung nachhaltig geprägt hat.
Marx schuf keine in sich angeschlossene Ideologie und er hätte die im Sozialismus des
Ostblocks zementierten ewigen Wahrheiten ebenso abgelehnt wie die Beschneidung
der Freiheit des Einzelnen bis hin zur Pressefreizeit wo er für seinen Kampf gegen
die Zensur ja sogar in Haft geriet. Er verurteilte die Ausbeutung des Menschen durch den
Menschen, war aber durchaus kein Feind der Reichen sondern der der Armut.
Sind die Analysen und Diagnosen des rauschebärtigen Denkers auch moderner denn je, so hat
er selbst die meisten Veröffentlichungen seiner Schriften gar nicht mehr selbst erlebt
und auch kaum von ihnen profitiert. Wie es ohnehin zur Tragik dieses ebenso vergötterten
wie erbittert gehassten Genies gehört, dass er selbst so unfähig im Umgang mit Geld war,
dass seine vielköpfige Familie immer wieder Zeiten größter wirtschaftlicher Not
durchstehen musste.
Neffe rundet dieses fesselnde Gesamtporträt des wirkmächtigsten Philosophen der Neuzeit
mit einem denkwürdigen Kapitel ab, wo ein Rückblick Marx' im Angesicht des nahenden
Todes nur einen Schluss zuließ: es war kein erfülltes Leben. Und wurde immer wieder je
nach Gusto ideologisch umgedeutet und missbraucht, wo dann sein Kommunistisches
Manifest Grundlage für Gewalt, Unterdrückung und Kriege wurde.
Marx hätte jeden Dogmatismus abgelehnt, ist sich Neffe sicher. Und er belegt seine
Wertungen durch intensiv recherchierte Quellen einschließlich privater und öffentlicher
Korrespondenz. Fazit: eine brillante Biografie, die keine Reinspülung versucht und
stattdessen eine wichtige und wohltuend klare Sicht auf den ganzen Marx
eröffnet.
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