SY MONTGOMERY: RENDEZVOUS MIT
EINEM OKTOPUS
Mit einer sehr besonderen Spezies von Blaublütern hat sich die amerikanische
Naturforscherin Sy Montgomery angefreundet und aus ihren Erlebnissen ein hinreißendes
erzählendes Sachbuch verfasst. Dieses blaue Blut haben Okopoden, auch Kraken genannt,
weil ihr Blut chemisch von Kupfer transportiert wird und nicht wie bei anderen Lebewesen
bis hin zum Menschen über Eisen.
Rendezvous mit einem Oktopus ist ihr Erfahrungsbericht überschrieben und
schon der Untertitel deutet die große Revision der durch Legenden und berühmte Romane
als unheimliche und mordlüsterne Ungeheuer gebrandmarkten Tiergattung an: Extrem
schlau und unglaublich empfindsam: Das erstaunliche Seelenleben der Kraken.
Montgomerys interaktive Begegnungen im New England Aquarium in Boston waren solche mit
vier weiblichen Pazifischen Riesenkraken und zur Gefährlichkeit sei klargestellt: sie
haben einen kräftigen Papageienschnabel, dessen Biss ein neurotoxisches Gift wie das von
Schlangen freisetzen kann, und ihr Speichel ist fähig, Fleisch zu zersetzen. Die
eigentliche Gefahr für Menschen liegt jedoch in ihrem speziellen Körperaufbau mit den
acht Armen, die direkt vom Kopf ausgehen.
Jeder dieser Arme trägt rund 200 Saugnäpfe von etwa 7,5 cm im Durchschnitt beim
ausgewachsenen Tier und jeder dieser für sich allein äußerst fingerfertigen
Saugnäpfen hat eine Saug- oder Hebekraft von rund 15 kg. Kein Wunder, dass man die
Autorin bei ihren vielen Kontakten mit den bis zu 40 kg schweren Oktopoden nie
unbeaufsichtigt gelassen hat. Mochten die körperlichen Berührungen auch noch so
erstaunlich freundlich und deshalb meist recht sanft erfolgt sein, jede der vier
blaublütigen Damen hätte ihr menschliches Gegenüber mit Leichtigkeit in das 8° kalte
Wasser ziehen können.
Die erste Begegnung mit der etwa zwei Jahre alten Athena verblüffte die erfahrene
Naturfreundin bereits über alle Maße, denn dieser Kopffüßler ließ sich schnell auf
körperliche Berührungen ein und überraschte schon mit der Konsistenz der weichen Haut
und der geradezu seidenweich zarten Saugnäpfe. Hinzu kamen die teils atemberaubenden
Farbenspiele, die sich offenbar den jeweiligen Emotionen entsprechend verändern. Was
natürlich auch die genialen Tarnfähigkeiten der Oktopoden verständlich macht.
Und Montgomery erlebte jedes Mal neue spannende und aufschlussreiche Dinge, zumal Athena
unübersehbar die Freundschaft zu ihr genoss. Wobei dieses sensible und
offenbar sehr intelligente Individuum wie später auch Octavia, Kali und Karma einen
unglaublichen Spieltrieb zeigten. Und die Erfahrungen der Aquarien belegen, dass sie in
Gefangenschaft stets Beschäftigung brauchen, auf Langeweile nämlich reagieren sie mit
Schmollen oder Zerstörungswut. Zugleich sind sie findige Flüchtlinge, die jede
Gelegenheit zum Ausbüxen nutzen.
Ebenso fähig zu Zeichen von Freude und Freundschaft, sind die Oktopoden unendlich
trickreich und unberechenbar. Kein Wunder, dass Aquariumexperten erklären: Es gibt
nichts Eigenartigeres als Tintenfische. Dergleichen stellte die Autorin dann auch in
freier Wildbahn fest, als sie auf Tauchgänge in Französisch Polynesien und im Golf von
Mexiko ging. Das surrealste und selten zu beobachtende Ereignis aber erlebte sie im Giant
Ocean Tank in Seattle: ein Oktopus-Blind-Date.
Dabei wurde sie Augenzeugin von Sex zwischen den Tintenfischen Rain und Spirit. Eine sehr
komplexe Angelegenheit mit einzigartigen Show-Einlagen. Wobei die große Ungewissheit bis
zum Abschluss war, ob die Paarung friedlich bleiben würde, denn nicht nur beim
Liebesspiel kommt es zuweilen und ziemlich unvorhersehbar zu absolut tödlichen Akten von
Kannibalismus.
Mögen sich die Evolutionsbahnen von Oktopoden und Menschen auch vor über 500 Millionen
Jahren getrennt haben, so finden sich doch erstaunliche Ähnlichkeiten in Empfindungen und
Verhaltensweisen. Montgomery gelingt es trotz aller Nähe und Sympathie, die intelligenten
Tiere nicht über Gebühr zu vermenschlichen. Die Monster alter Überlieferungen aber sind
sie sie bei aller potentiellen Gefährlichkeit gleichwohl offensichtlich nicht, überaus
faszinierend dagegen allemal. Fazit: ein fantastisches Naturbuch, mit ansteckender Neugier
und Begeisterung geschrieben.
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