DAVID I. KERTZER: DER ERSTE
STELLVERTRETER
Papst Pius XII. gehört besonders wegen seines folgenreichen Schweigens zum Holocaust zu
den umstrittensten Kirchenfürsten des Vatikan. Während er spätestens durch Rolf
Hochhuths Drama Der Stellvertreter als Unterstützer des Faschismus
gebrandmarkt wurde, galt sein Vorgänger Pius XI. als ein aufrichtiger gewichtiger
Gegenspieler des Faschismus.
Dass diese Rollenverteiligung historisch ganz und gar falsch gesehen wurde, belegte jetzt
der amerikanische Historiker David I. Kertzer mit seinem fulminanten Sachbuch Der
erste Stellvertreter. Papst Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus. Diese
umfassende und sehr unterhaltsam geschriebene geschichtliche Revision, die mit dem
Pulitzer-Preis gewürdigt wurde, entstand in siebenjähriger Arbeit. Möglich wurde sie
erst, als der Vatikan 2006 die Archive zu den Dokumenten der Regentschaft Pius XI. von
1922 bis 1939 öffnete.
Mit Kardinal Achille Ratti und dem Faschistenführer Benito Mussolini kamen im
Schicksalsjahr 1922 zwei Führer an die Macht, die bei aller Verschiedenheit die Ablehnung
von Demokratie und Parlamentarismus ebenso einte wie ihr totalitärer Anspruch. Als
wichtiges Bindeglied wirkte zudem beider Angst vor dem Kommunismus, der sich erst fünf
Jahre zuvor mit der Oktoberrevolution in Russland bahn gebrochen hatte.
Italien lag nach dem Ersten Weltkrieg danieder und der Vatikan litt noch immer unter dem
demütigenden Verlust staatlicher Macht, seit der neue Staat Italien ihm diese vor über
50 Jahren genommen und Rom zu seiner Hauptstadt gemacht hatte. Nun war Mussolini mit
seinem Marsch auf Rom an die Macht gestürmt, die allerdings noch fragil war
und keine parlamentarische Mehrheit besaß. Doch der Priesterhasser verstand
es, den frisch gewählten Pontifex mit einer Allianz für seine Unterstützung zu ködern.
Während er dem Vatikan eine neue Staatlichkeit gab und die Trennung von Kirche und Staat
zugunsten einer umfassenden Rechristianisierung beendete, gab der Papst dem
Duce und seiner Faschistenbewegung die fehlende Legitimität. Wobei die
eigentliche Wende erfolgte, als Mussolinis Regierung 1924 nach der Ermordung des
sozialistischen Abgeordneten Matteotti durch eine faschistische Schlägertruppe auf der
Kippe stand.
Die einzige politische Alternative, eine Koalition der Sozialdemokraten mit der
katholischen Volkspartei, unterband der Pius XI. - womit er die faschistische Diktatur
endgültig etablierte. Wie er später in Nazi-Deutschland auch die katholische
Zentrums-Partei dem für die Kirche so wertvollen Reichskonkordat opferte.
Es liest sich wahrhaft spannend, wie aus Mussolinis rabiater Einvernahme des Staates quasi
eine klerikal-faschistische Revolution wurde. Statt der vermeintlichen und bis heute
hochgehaltenen Gegnerschaft der Kirche einschließlich der Laienorganisation
Katholische Aktion als einer der stärksten Oppositionsgruppen erfolgte eine
Kungelei sondergleichen. Deren Höhepunkt waren die Lateranverträge von 1929, die dem
Vatikan viele Rechte bescherten bzw. wiedergaben und zugleich das Faschistenregime
sakrosankt machten.
Mussolini betrieb im Übrigen ein skrupelloses Spiel von Zuckerbrot und Peitsche mit dem
Papst. So sorgte er einerseits dafür, dass in Schulen, Krankenhäusern und Gerichten
wieder Kruzifixe aufgehängt wurden und selbst die Jugendorganisationen seiner
Schwarzhemden einen Priester zugeordnet bekamen. Wo die Kirche jedoch mit Kritik
aufzumucken wagte, zogen Schlägertrupps los gegen kirchliche Einrichtungen und Geistliche
erhielten Prügel oder den erniedrigenden Rizinustrunk.
Der institutionalisierte Antisemitismus dagegen wurde ohne Druck auch von katholischer
Seite aktiv vertreten. Erst gegen Ende seines Lebens reute den Papst, dass er den
Rassegesetzen und der Judenverfolgung nichts entgegengesetzt hatte. Bereits schwer krank,
arbeitete Pius XI. heimlich an einer Enzyklika mit scharfer Kritik an Faschismus und
Rassismus. Noch vor deren Abschluss und Verkündung verstarb er jedoch.
Nun war es maßgeblich sein Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli längst
aussichtsreicher Papstnachfolger der dafür sorgte, dass dieses Enzyklika in den
geheimen Archiven verschwand. Und als er im März 1939 zu Pius XII. gekürt wurde, blieb
er ein Systemerhalter, wie Kertzer ihn bezeichnet. Da ist das Entsetzen
gewisser Kreise nur zu gut zu verstehen, wenn der Historiker den Schluss zieht: Der
Vatikan spielte eine zentrale Rolle dabei, das faschistische Regime möglich zu machen und
es an der Macht zu halten.
Fazit: Geschichtsschreibung vom Feinsten zu einer längst überfälligen Revision eines
der aufwühlendsten Abschnitte der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert.
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