SIMON SEBAG MONTEFIORE: DIE
ROMANOWS
Hätte Simon Sebag Montefiore sein Manuskript von Die Romanows als Roman
angeboten, hätte wohl kaum ein Verlag es akzeptiert wegen des vielfach völlig abstrusen
Personals und der Fülle von kruden Exzessen, die da beschrieben werden. Doch Montefiore
ist Historiker und hat als großer Russland-Experte bereits etliche preisgekrönte
Sachbücher und Biografien verfasst.
Der Untertitel Glanz und Untergang der Zarendynastie 1613 1918 verrät,
um was in diesem gewaltigen Werk geht. Zwar gibt es zahlreiche Schriften um die Romanows,
doch keine ist so umfassend und detailliert wie die des Professors für Geschichte an der
Cambridge University. Ohnehin für intensives Recherchieren wie auch beste Beziehungen zu
entscheidenden Quellen in Russland bekannt, konnte Montefiore für dieses Realepos etliche
neue Funde auswerten. Das reicht von Tagebüchern bis hin zu lange verschollenen intimen
Briefwechseln.
Konsequent schreibt der Autor nach einer exzellenten Einleitung chronologisch der gesamten
304-jährigen Geschichte der Romanows folgend. In seiner mitreißenden Kombination aus
Faktenwissen, literarischem Können und psychologischem Erklärungsvermögen ist hier eine
romanhafte Abhandlung gelungen, die jeden Historienroman in den Schatten stellt und dabei
doch hohen wissenschaftlichen Anforderungen genüge tut.
Alles beginnt 1613 mit dem 17-jährigen Michael I., der die Zarenkrone in der unsicheren
und von widerstrebenden Machteliten geprägten Ära nur zögernd annimmt. Seinem
frömmelnden Nachfolger folgt dann mit Sofia I., seiner Enkelin, bereits die erste von
mehreren Frauen auf dem Thron. Bis dahin ist der Leser längst in einer zuweilen kaum
glaublichen Melange aus Intrigen, Verschwörungen, Prinzen- und Vatermorden, vergifteten
Bräuten und immer wieder Sex- und Alkoholexzessen gefangen. Wohlgemerkt: in einem Reich,
in dem die orthodoxe Kirche eine machtvolle Säule des Systems mit immensem Einfluss war.
Den zuweilen deftigen Abhandlungen fügt Montefiore immer wieder umfangreiche Fußnoten
mit manch süffisanten Anekdoten und expliziten Details hinzu. Das passt hervorragend ins
Gefüge der vielen Ausführungen über das politische und gesellschaftliche Treiben am
Hof, das ein übers andere Mal von Ränkeschmieden, Scharlatanen und Ehrgeizlingen
durcheinandergewirbelt wird.
Um so erstaunlicher wirkt angesichts dieser Palette an Skurrilitäten, Grausamkeiten,
Ausschweifungen, Prunksucht und Blutvergießen der stetige Aufstieg des Reiches. Der
Zuwachs an Macht und schierer Größe erscheint grenzenlos. Allerdings gibt es dabei
einige herausragende Persönlichkeiten unter den 20 Throninhabern.
Allen voran Peter I., mit allem Recht der Große genannt. Das ihm gewidmete
Kapitel allein ist quasi ein Roman für sich, allerdings ein historisch konkret belegter.
Eine faszinierende aber auch zügellose Führungsfigur war der Hüne, der dem
rückständigen Reich den kraftvollen Schub in die Moderne gab. Wie er Russland umbaute
und den eroberungssüchtigen Schweden-König Karl XII. niederrang, wird in den
Schilderungen seines wild bewegten Lebens noch übertroffen von der selbst für russische
Verhältnisse ungewöhnlichen Liebesgeschichte mit der Wäscherin Martha.
Als Soldatenkurtisane kam sie zu ihm, gebar ihm die Tochter Elisabeth, und er heiratete
sie heimlich. Und diese Peter in Charakter und Lustgier offenbar sehr ähnliche Frau
beerbte ihn sogar als Katharina I. auf dem Thron. Den später aber auch der
Bankert Elisabeth noch einnehmen sollte. Doch auch die zweite Katharina
aus deutschem Adel wurde nicht zuletzt für ihre Triebhaftigkeit bis ins Alter
berühmt.
Allerdings erwarb sie sich mit ähnlicher Berechtigung wie Peter I. den Beinamen die
Große, denn mit viel Intelligenz und Geschick betrieb sie eine ungeheuer
eroflgreiche Expansionspolitik. Daneben erweist sich ihre Ägide als besonders farbig
wegen der Männer an ihrer Seite, die wie Orlow und Potemkin weit mehr als nur Lüstlinge
waren. Selbst als einer der großen Fraueneroberer aber ebenso nicht nur äußerlich von
herausragender Statur als unterschätzter Gegner Napoleons zeigte sich auch Alexander I.
Alexander II. dagegen glänzte weniger mit seinen zögerlichen Reformen, während er einen
höchst pikanten Briefverkehr mit seiner Langzeitgeliebten unterhielt, der seinesgleichen
sucht. Diese Briefe gehören zu den erst jetzt zugänglichen Pretiosen aus der Zarenzeit.
Anderes wiederum erfährt eine Revision auf der Grundlage neuester Forschung und das
betrifft insbesondere das herausragende Schlusskapitel über den Untergang der Dynastie in
der Oktoberevolution und ihren Wirren.
Noch einmal steht mit Zar Nikolaus II. ein exzellent herausgearbeiteter Charakter im
Mittelpunkt und es wird nachvollziehbar, warum dieses ewig regierende Adelsgeschlecht an
einer Art dauerhafter Inzucht zugrunde ging. Der düster mysteriöse Rasputin trieb sein
Unwesen und Montefiore korrigiert die reißerischen Geschichten um die Ermordung des
einflussreichen Wanderpredigers es war ein einfacher Kopfschuss.
Um so schockierender lesen sich die nun historisch belegten Details von der Ermordung der
Zarenfamilie im Juli 1918 durch eine aufgestachelte Bolschewikenmeute. Und der Autor fügt
dem Ganzen eine abschließende Bewertung an, die bis in die Übergänge zu Stalin, der
Weltmacht UdSSR und zum heutigen Russland und seines wie die Romanow-Zaren
autokratischen Herrschers reicht.
Fazit: brillante Geschichtsschreibung angelsächsischer Prägung, also lebendig, spannend
und zugleich absolut auf wissenschaftlichem Boden. Und in dieser umfassenden Form und
Qualität ein kaum zu überbietendes Standardwerk zum Thema.
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