ASNE SEIERSTAD: EINER VON
UNS
Am 22. Juli 2011 zündet Anders Behring Breivik erst eine selbstgebaute Autobombe in Oslos
Regierungsviertel. Danach fährt er rund 40 Minuten nach Norden zu der kleinen Insel
Utöya und bringt dort innerhalb von 75 Minuten 69 Teilnehmer eines politischen
Jugendcamps um. Seine Einlassungen in den Verhören zeigen eine schwer gestörte
Persönlichkeit mit krudem Sendungsbewusstsein und nur eine seiner wirren Überzeugungen
wird wohl jeder teilen: dass er einzigartig sei.
Und doch kam dieser damals 32-Jährige mitten aus der wohlsituierten und demokratisch
gesunden Gesellschaft Norwegens. Was auch der Grund dafür ist, dass Asne Seierstad
Die Geschichte eines Massenmörders - so der Untertitel unter dem Titel
Einer von uns veröffentlicht hat. Die preisgekrönte Journalistin und
erfahrene Kriegsberichterstatterin hatte für ihren durchweg atemberaubend geratenen
Bericht Zugang zu allen Dokumenten der Osloer Sozialbehörden sowie zu den sonstigen
Protokollen von Polizei und Gericht.
Doch erst zusammen mit eigenen Aussagen Breiviks und seinen teils akribischen Tagebüchern
sowie den Erinnerungen überlebender Opfer wird das ganze, kaum fassbare Geschehen und die
Entwicklung dahin zu einem runden Bild. Das beginnt bei dem Täter bereits mit der
unglückseligen Familiengeschichte, wo eine psychisch angeschlagene Frau mit zwei kleinen
Kindern aus zwei geschiedenen Ehen kaum mit sich selbst zurechtkommt und schon dem
Vierjährigen entgegenhält, sie sähe ihn lieber tot. Ins Schema einer sich arg
missbildenden Psyche passen ebenso Details über Tierquälereien und der frühe Vermerkt
der Sozialbehörden, der Junge sei auf infame Weise aggressiv.
Das Gymnasium beendet er nicht und er ist auch in seinem Suchen nach Anerkennung ein
ständiger Verlierer. Viele Mosaiksteine kommen zusammen, die seinen Weg bis hin zu einem
isolierten Einzelgänger kennzeichnen, der mit 27 Jahren wieder bei seiner Mutter einzieht
und sich oft tagelang in seinem Zimmer verschanzt. Bis zu 17 Stunden ist er an manchen
Tagen im Internet und frönt insbesondere obsessiv und erfolgreich dem brutalen virtuellen
Spiel World of Warcraft.
Er driftet ab in rassistisches rechtsextremes Gedankengut, wird aber selbst von der
gleichgesinnten Stormfront bald nicht mehr ernst genommen. Wie er nun sein
Wahngebäude gegen den drohenden Untergang Norwegens und Europas durch die
hereinströmenden islamischen Horden aufbaut und zum selbsternannten Oberhaupt der neuen
Kreuzzügler Knights Templar wird, das wirkt einschließlich eines 1500 Seiten
starken Manifests so abnorm, dass man es ohne seinen Ausbruch vom 22. Juli 2011 schlicht
als lächerliche Hirngespinste abtun würde. Doch es wächst ja etwas Furchtbares heran
bei ihm und diese Selbstindoktrinierung lässt in ihm den Wahn wachsen, einen Rassenkrieg
auslösen zu müssen.
Sein klares Ziel sind jene Kräfte, die die Einwanderung von Muslimen zugelassen aber auch
Multikulturelles und einen massiven Feminismus gefördert haben: die Sozialdemokraten,
allen voran die ehemalige erste Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Ebenso
akribisch wie clever bereitet Breivik über viele Wochen den Bau einer sehr wirksamen
Autobombe vor, die dann acht Menschen tötet und viele verletzt. Ministerpräsident
Stoltenberg bleibt allerdings ungeschoren, aber Oslo ist auch nur der Auftakt.
Eine Reihe von Polizeipannen in diesem von jeglichem Terrorismus bis dato unberührten
Land lässt den Attentäter in seiner selbstgefertigten Polizeiuniform und dem Lieferwagen
im ersten Chaos nach der Explosion unbehelligt davonkommen. Sein perfides zweites Ziel:
das Jugendlager der sozialdemokratischen Parteijugend auf Utöya, viele Dutzend junge
Menschen ab 14 Jahren, die in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement in krassem
Gegensatz zu Breivik stehen.
Die minutiösen Schilderungen der Autorin sind nicht weniger als grandios, aber auch nur
schwer zu ertragen. Dem kaltblütigen Amoklauf mit der ungeheuren Effektivität steht das
Erleben und Empfinden der 13 Überlebenden gegenüber und das geht ganz tief unter die
Haut. Schließlich ist dies nicht die barbarische Ausgeburt eines reißerischen
Thrillerautors sondern das reale Wüten eines leibhaftigen Wahnsinnigen.
Genau diese Einstufung war jedoch die größte Befürchtung Breiviks nach seiner
Festnahme. Er nennt die jungen Opfer nicht nur Marxistenbrut, er rühmt sich
sogar: Das war kein Mord, das waren politische Hinrichtungen! Nichts aber
wäre nun schlimmer für den selbsternannten Zivilisationsretter gewesen, als von der
Öffentlichkeit als durchgeknallter Idiot nicht ernstgenommen zu werden. So handelt er in
unglaublich dreister Verhaltensweise nicht nur allerlei Vergünstigungen als Preis für
sein Kooperieren bei den Ermittlungen aus.
Als es um die psychologischen Gutachten geht, insistiert er: Ich will für
zurechnungsfähig erklärt werden. Was in dem von der Weltöffentlichkeit verfolgten
Prozess dann auch tatsächlich geschieht. Er bekommt die Höchststrafe von 21 Jahren
Freiheitsentzug mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Mindestens so fesselnd wie sein
Verhalten vor Gericht und seine Beschwerden über die normalen
Haftbedingungen sind schließlich die Aussagen einiger der Überlebenden nach ihrer
Genesung wie auch Asne Seierstads Schilderung im Anhang, wie das Buch entstanden ist.
Fazit: ein Meisterwerk des Genres, packend, authentisch und zutiefst verstörend. Und ein
bemerkenswertes Plädoyer für Mitmenschlichkeit und den demokratischen Rechtsstaat.
|