HUBERT WOLF: KRYPTA
Wer da meint, die katholische Kirche sei hoffnungslos altmodisch und stecke verbohrt in
mittelalterlichen Strukturen und Traditionen, irrt auf erstaunliche Weise. Die heutige
autokratische Autorität des Vatikan mit seinen starren Dogmen und dem päpstlichen
Absolutismus sind vielmehr ein Konstrukt der Neuzeit und erst seit 1870 aus Gründen des
Machtanspruchs eingeführt und regelrecht zementiert worden.
Zum Beweis hat Hubert Wolf, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster,
tief in den nur schwer zugänglichen Archiven des Vatikan Schriften ausgegraben und
ausgewertet, die auf verblüffende Art der offiziellen Maßgabe widersprechen, dass das
geltende System auf alten, unumstößlichen Traditionen und theologischen Denkgebäuden
beruhe, die dementsprechend sakrosankt seien.
Unter dem Titel Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte stellt
er zehn gravierende Beispiele vor, die vieles in einem anderem Licht erscheinen lassen.
Nicht immer war die Stellung von Papst, Bischöfen und Klerus so unantastbar wie heute. So
gab es über Jahrhunderte Äbtissinnen mit der Machtfülle von Bischöfen, die sogar
Pfarrer einsetzen und Ehen annullieren durften. Vom kastilischen Kloster Las Huegas sind
sogar Äbtissinnen mit Mitra und Krummstab überliefert. Auch waren die Kirchenfürsten
nicht generell von Rom berufene und von dort entsandte weisungsgebundene Statthalter des
Papstes. Da wurden auch Bischöfe von Laien gewählt und so mancher Mönch wirkte als
einflussreicher Prediger und Kirchenfunktionär.
Wolf belegt, wie die vermeintlichen Traditionen und Privilegien teils erst erfunden
wurden, um die Machtfülle zu zentralisieren und jegliche Reformgedanken zum Sakrileg zu
machen. Die Unabänderlichkeit der angeblich althergebrachten Traditionen wurde derartig
dogmatisch überhöht, dass selbst Historiker dies als immer schon gegeben akzeptierten.
Und der Kirchenhistoriker nennt die Beispiele, die zeigen, wie vielfältig, uneinheitlich
und wandelbar die katholische Kirche einst gewesen ist. So nimmt es nicht wunder, dass
derartiges konkret überkommenes Schrift- und Gedankengut in einer Krypta,
einem Raum der Aufbewahrung abweichender theologischer Ansätze und Praktiken verborgen
wurde.
Es mag dahingestellt sein, inwieweit manche der teils geradezu revolutionär anmutenden
vergessenen Traditionen die Grundlage für die längst überfälligen Reformen
der römisch-katholischen Weltkirche sein könnten. Wenn neues Denken so sehr auf den
erbitterten Widerstand der vatikanischen Zentralmacht stößt vielleicht hilft ja
ein Wiederbeleben alter Traditionen, wie sie die Krypta aus frühen Zeiten des
Christentums birgt. Fazit: für geschichtlich und kirchenhistorisch Interessierte eine
bestens zu lesende Lektüre mit spannenden Einblicken in bisher sorgsam Verborgenes.
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