ELISABETH
HERRMANN: DER SCHNEEGÄNGER
Mit einem dunklen geheimnisvollen Prolog leitet Elisabeth Herrmann ihren jüngsten
Kriminalroman Der Schneegänger ein, der eine seltsame Spur legt. Das
Angedeutete ist vier Jahre her und nun in einem besonderen strengen Winter wird das
Skelett eines Jungen in einem Wald in Brandenburg gefunden, offenbar erschlagen.
Damals gab es eine einzige Lösegeldforderung und dann nichts mehr. Ohnehin war die
rätselhaft, denn der neunjährige Darijo Tudor war der Sohn von kroatischen Flüchtlingen
ohne jedes Vermögen. Schon damals hatte Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring die
Ermittlungen geleitet, die jedoch schließlich ins Leere liefen. Lediglich eine Vermutung
gab es: dass die Entführung eine Verwechslung war und eigentlich einem der beiden Söhne
der millionenschweren Familie Reinartz galt.
Auf dem Gelände ihrer mondänen Villa am Wannsee wohnten Darijos Eltern im alten
Kutscherhaus. Während der Biologe Darko Tudor in einer Wolfsforschungsstation eine
Anstellung fand, arbeitete seine Frau Lidija als Hausangestellte in der Villa. Intern tat
sich allerdings nur wenige Wochen nach dem Verschwinden des Jungen einiges, denn Darko
wurde aus dem Haus gejagt und Lidija zog zu ihrem bisherigen Arbeitgeber Reinartz.
Der setzte seine Ehefrau vor die Tür und ehelichte die Haushälterin. Hinzu kam die Rote
Karte seitens des Unternehmers für die junge Diana aus der Nachbarschaft, die Jugendliebe
des älteren Sohnes Siegfried. Der als Internatsschüler im Übrigen einen ähnlichen
anmaßenden Dünkel als Sohn reicher Eltern aufweist wie sein verwöhnter Bruder Tristan.
Nun aber nach dem Fund des toten Jungen nimmt Gehring erneut die Ermittlungen auf, für
die Überbringung der schmerzlichen Nachricht nimmt er jedoch seine junge Kollegin Sanela
Beara mit. Zwar kann er ihre temperamentvolle Art und ihre Neigung zu kreativen Methoden
überhaupt nicht ab, doch er braucht die Polizeimeisterin, die derzeit für den Aufstieg
in den gehobenen Dienst an der Polizeihochschule studiert, wegen ihrer kroatischen
Herkunft und möglicher Sprachbarrieren.
Ihre Begegnung mit dem attraktiven Wolfsforscher löst bei ihr nicht nur eine ungewollte
Anziehung aus, ihr kommen auch Zweifel an der Entführungstheorie. Der gewissenhafte
Gehring dagegen verschließt sich ihren Argumenten und will sie auch sonst nicht bei den
Ermittlungen dabei haben. Prompt begibt sich die eigenwillige Kriminalistin auf eine nicht
ungefährliche eigene Spurensuche, indem sie sich als Hausmädchen Nelli in die Villa
einschleusen lässt.
Mag sie auch erste Schlüsse aus den merkwürdigen Familienverhältnissen ziehen, so
stößt sie doch auf eine Mauer des Schweigens wie auch auf ein massives
Klassenbewusstsein. Nur schwer kommt sie zu ersten Erkenntnissen, gerät aber immer wieder
auch in haarsträubende Situationen, sei es mit dem kiffenden Siegfried, sei es mit Hass,
Lug und Trug hinter der hochherrschaftlichen Fassade, wo Skrupel keine Rolle spielen.
Probleme hat die Sanela außerdem mit dem so auf Regeln bedachten Gehring, der von ihren
Entdeckungen nichts wissen will.
Elisabeth Herrmann hat den Ruf einer auch literarisch hochklassigen Krimi-Autorin und
entsprechend wird hier zwar ein exzellent geknüpfter Kriminalfall ausgebreitet, der mehr
mit komplizierter Ermittlungsarbeit als mit wildbewegter Action fesselt. Tatsächlich
jedoch erreichen die teils düsteren Geschehnisse die Dimensionen einer verwickelten
Familientragödie voller Abgründe. Da beeindrucken dann nicht nur die hervorragend
gezeichneten Charaktere allen voran die hinreißende Sanela Beara immer
wieder überrascht auch der souveräne Sprachzauber mit starken Sätzen und Metaphern.
Fazit: ein meisterhaftes Werk für anspruchsvolle Krimi-Freunde, das garantiert auch
wieder Grundlage einer weit überdurchschnittlichen Verfilmung wird.
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