ADAM ZAMOYSKI: 1815
Die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress ist wahrscheinlich der folgenreichste
Vorgang der modernen Geschichte, erklärt der polnisch-amerikanische Historiker Adam
Zamoyski in der Einleitung seines neuen Werkes 1815.
Nicht von ungefähr lautet der Untertitel Napoleons Sturz und der Wiener
Kongress, denn Zamoyski knüpft damit direkt an sein epochales Meisterwerk
1812. Napoleons Feldzug in Russland an. Damit widmet er sich zunächst
eingehend der bewegten Vorgeschichte des Kongresses. Napoleon hatte mit dem fatalen Ende
seines Russlandfeldzuges zwar seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit endgültig verloren,
schaffte es jedoch, seine Macht als Kaiser von Frankreich zu retten.
Erst die große Niederlage in der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig im
Oktober 1813 brachte seine Vorherrschaft soweit ins Wanken, dass ihn die immer wieder
untereinander widerstrebenden Gegner im März 1814 endlich entmachten und ins milde Exil
auf der Mittelmeerinsel Elba schicken konnten. Doch selbst nach 25 Jahren Revolution und
Krieg bedurfte es noch hartnäckigsten Bemühungen, um im September 1814 endlich den
europäischen Kongress nach Wien einzuberufen.
Das Verdienst des Zustandekommens gebührt Castlereagh, als englischer Außenminister wohl
der Vertreter mit dem geringsten territorialen Interesse auf dem Kontinent. Was auf einige
Wochen ausgerichtet war, sollte sich neun Monate hinziehen am Ende noch unter Druck
zum Erfolg beschleunigt durch den brutalen Weckruf Napoleons, als dieser für die
legendären 100 Tage zurückkehrte und erst nach dem Kongress bei Waterloo endgültig
ausgeschaltet und in die Verbannung auf St. Helena geschickt werden konnte.
Zu gegensätzlich waren viele der Ansprüche und Forderungen insbesondere der Großmächte
Russland, Österreich, Großbritannien, des restaurierten Königreichs Frankreich und
Preußens. Wobei gerade letztere erst noch im Aufstreben zugleich aber die gierigste von
allen war. Die umtriebigsten Rollen spielten Zar Alexander I., Frankreichs raffinierter
Außenminister Talleyrand und als gewiefter Organisator und Dirigent der österreichische
Außenminister Klemens Fürst von Metternich, ein Strippenzieher mit einem Heer von
Spitzeln.
Und Zamoyski versteht es nun brillant, ebenso wissenschaftlich fundiert und detailliert
wie spannend und geradezu romanhaft dieses neunmonatige Ringen um eine neue europäische
Ordnung zu schildern. Zur Grundlage dienten ihm dabei Dokumente, Briefe, Tagebücher und
Polizeiberichte in sechs Sprachen mit faszinierenden Einblicken insbesondere auch hinter
die Kulissen und auf die schillernden Protagonisten, die hier lebendige Gestalt annehmen.
Die beinah täglichen Verhandlungen selten in großen Versammlungen, meist in
kleinen Kreisen und Hinterzimmern die Zerwürfnisse durch Alexanders Ansprüche auf
Polen und Preußens Hunger auf ganz Sachsen, was fast zu einem erneuten Krieg
untereinander geführt hätte, das alles wird exakt dargestellt. Doch nicht umsonst wurde
und wird der Wiener Kongress von vielen Seiten noch immer geschmäht mit dem als echt
überlieferten Urteil Der Kongress tanzt, aber er entscheidet nichts.
Zamoyski stellt klar, dass das nur halb stimmt, denn es kam bekanntlich zu einer großen,
folgenreichen Friedensordnung. Zugleich bestätigt er den unfassbaren gesellschaftlichen
Reigen, der sich in diesen Monaten in Wien abspielte. Turbulent ging es zu und das vor
allem in allerlei Festivitäten, Boudoirs, Salons und Privatgemächern. Zu den größten
Hedonisten gehörten hier der unersättliche Frauenfreund Alexander, Talleyrand,
Metternich und vor allem eine große Schar von Damen aristokratischer und auch weniger
hoher Provenienz. In dieser Atmosphäre der Promiskuität, so der Autor,
gingen politische Ränkespiele und amouröse Eskapaden und Wechselreigen nahtlos
ineinander über und Metternichs Agenten führten Buch.
Exzellente Charakterzeichnungen stehen hier neben bestechenden Analysen politischer
Manöver mit oft atemberaubend querschießenden Allianzen. Zamoyski fängt all dies
farbig, anekdotenreich und zugleich wissenschaftlich seriös ein. Abschließend gibt er
obendrein eine souveräne kritische Würdigung des Kongresses ab, die in ihrer
Klarsichtigkeit vollends überzeugt. Und er lässt staunen, mit welcher Konsequenz aus dem
sittenlosen Gipfeltreiben eine solch erfolgreiche Friedensordnung entstand, die den
europäischen Kontinent samt der restaurativen Heiligen Allianz auf Jahrzehnte
quasi kriegsfrei hielt.
Fazit: großartiger ist Geschichtsschreibung kaum denkbar, womit Zamoyskis Bücher zu
1812 wie auch zu 1815 zu den herausragendsten Standardwerken zur
napoleonischen Epoche gehören dürften.
|