LUDWIG WINDER: „DER THRONFOLGER“


28. Juni 1914, 10.45 Uhr in Sarajewo: der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie werden von einem serbischen Attentäter erschossen, was wenige Wochen später zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führt. Viel Literatur gibt es dazu, doch kaum jemand hat die Umstände und vor allem die im Mittelpunkt stehende Persönlichkeit so passgenau durchleuchtet wie der Journalist und Schriftsteller Ludwig Winder (1889-1946) in seinem biographischen Roman „Der Thronfolger“.
Auch die Geschichte dieses Buches selbst ist außergewöhnlich, denn trotz seiner exzellenten Qualitäten war dem Meisterwerk des Autors ein armseliges Schicksal beschieden. 1935 wurde es in seiner Heimat auf Grund des „Gesetzes zum Schutze des Ansehens Österreichs“ verboten und in Nazi-Deutschland war ein Erscheinen undenkbar, weil Winder Jude war. So blieb es 1937 bei einer erfolglosen Herausgabe in der Schweiz und auch die Neuausgabe 1984 in der DDR blieb weitgehend unbeachtet.
Um so verdienstvoller ist die jetzige Neuauflage zum 100. Jahrestag des fatalen Tages im annektierten Bosnien-Herzegowina, denn mag dieses dichte, in gutem, etwas altmodischem Stil geschriebene Buch auch als historischer Roman deklariert sein, so beruht er doch auf intensiver Recherche der Fakten. Was aber die besondere Qualität ausmacht, ist Winders brillante Charakterzeichnung dieses wenig Sympathie heischenden Thronfolgers mit viel psychologischem Spürsinn.
31. Diese Feinheiten samt der wirklichkeitsnahen Dialoge und vor allem auch der gnadenlos sezierende Röntgenblick auf den Zustand der k & k-Monarchie als Riese auf tönernen Füßen faszinieren jeden geschichtlich interessierten Leser. Die Vita Franz Ferdinands ist die eines schwierigen, ebenso bigotten wie düsteren Menschen von aufbrausendem Wesen, dessen pathologisch schießwütige Jagdleidenschaft allein schon Bände spricht.
Gesundheitlich und psychisch belastet, trat mit Sophie Gräfin Chotek der einzige Lichtblick in sein Leben, ein Glück, für das er wegen der unstandesgemäßen Heirat als Thronfolger vom Kaiser einmal mehr gedemütigt wurde. Die immerwährenden eigenen Fehlverhalten, seine Intelligenz, sein brennender Ehrgeiz und die Infamie im maroden Staatswesen und vom greisen Monarchen, das ist der Stoff für eine tiefschwarze Tragikomödie.
Die gleichwohl bittere historische Wirklichkeit war und in die bekannte Weltkatastrophe führte, als er und seine Sophie gleichsam als lebende Zielscheiben durchs brodelnde besetzte Land fuhren und Pannen sowie bewusste Saumseligkeiten das Ihrige dazu taten. Wer sich zu diesem 100. Jahrestag des Auslösers für den Ersten Weltkrieg auf einen komprimierten faktengenauen Überblick konzentrieren möchte, benötigt nur zwei Bücher: den großen Gesamtüberblick durch Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ und Ludwig Winders „Der Thronfolger“ über Leben, Wirken und Sterben der Persönlichkeit, die zum Zündfunken werden sollte.

# Ludwig Winder: Der Thronfolger; 572 Seiten; Paul Zsolnay Verlag, Wien; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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