ELIF SHAFAK: EHRE
London 1992, die assimilierte Kurdin Esma macht sich auf, ihren Bruder Iskender vom
Gefängnis abzuholen. Dort saß er 14 Jahre, weil er seine Mutter Pembe ermordet hat in
einem sogenannten Ehrenmord. An der Tat gibt es keinen Zweifel, doch was führte zu seiner
solch furchtbaren Bluttat?
Das steht im Mittelpunkt von Ehre, dem jüngsten Roman der viel gerühmten
türkischen Autorin Elif Shafak. Dazu erzählt sie die Geschichte der Zwillingsschwestern
Pembe und Jamila, beide 1945 in einem Dorf am Euphrat in eine beklagenswerte
Vielmädchenschar geboren. In dieser türkisch-kurdischen Gesellschaft gilt ein strikter
Ehrenkodex für Männer. Je weniger ein Mann besaß, umso größer war der Wert
seine Ehre. Frauen wiederum haben ebenso streng schamhaft zu sein und zu leben.
Schon deshalb darf Adem Toprak nicht die ohne eigene Schuld - befleckte
Jamila heiraten sondern als Ersatz Pembe. Während Jamila im Heimatdorf zur geachteten
Hebamme und Heilerin wird, machen sich Adem und Pembe in den frühen 70er Jahren aus
wirtschaftlichen Gründen erst in die Großstadt Istanbul und schließlich nach London
auf. Ihren tief eingegrabenen Sittenkodex aber nehmen sie dabei mit, auch wenn er hier im
Westen nicht mehr als gesellschaftliches Regelwerk taugt. Vielmehr führen die
sinnentleerten Dogmen in eine fatale Spirale der kulturellen Rollenmuster.
Adem erweist sich als spielsüchtig mit massiven Folgen für die ganze Familie. Obendrein
verliebt er sich in eine Schönheitstänzerin und gibt sich seinen Begierden ungeniert
hin. Wozu es für Pembe einen wahrhaft infamen Kommentar eines Onkel der Familie gibt:
Was soll man erwarten, wenn sie nicht Frau genug ist, ihn zu hal-ten? Dass
Adem nicht die große unrühmliche Ausnahme in Sachen Ehre ist, belegt schließlich der
fast erwachsene Sohn Iskender, der seine englische Freundin westlich behandelt, bei seiner
Mutter jedoch, die ihn stets verhätschelt hat, den überkommenden Ehrenkodex anlegt.
Der Junge hat allerlei Probleme als Migrant durchlitten und gegen die rassistische Anmache
mittlerweile seine eigene Gang formiert. Seine Ansichten von Männlichkeit haben sich
entsprechend radikal und gewaltbereit entwickelt. Daheim aber führt er sich nach
überkommendem Rollenschema ganz und gar anerkannt von der Mutter wegen des
abwesenden Vaters als Oberhaupt der Familie auf.
Als die Mutter dann jedoch einen Job annimmt und spürbar aufblüht, wird die Situation
zunehmend prekär, zumal Esma einen anderen Weg ins hiesige Leben findet als ihr Bruder,
wogegen der kleine Yunus sich völlig ins Britische assimiliert. Als Mutter Pembe jedoch
den Koch Elias trifft und sich zwischen den Beiden zarte Bande auftun, rastet Iskender auf
archaische Weise aus.
Trotz der Verfehlungen des Vaters und obwohl Mutters Liebelei sehr dezent bleibt, sieht er
sich herausgefordert, die Ehre der Familie zu retten nur der Tod kann die Schande,
die die Mutter begangen hat, aus der Welt schaffen. Das bewegt und schockiert, doch Elif
Shafak enthält sich jeglicher Wertung und überlasst das Urteil dem Leser. Sie offenbart
nicht nur eine große Überraschung im Finale, es gelingt ihr auch, die Beweggründe der
Protagonisten und hier selbst des radikalisierten Iskender verstehbar zu machen.
Geschrieben ist das in Zeitsprüngen, die immer wieder auch in die Heimat Pembes und ins
Leben Jamilas führen. Trotz der vielen Wechsel und der zahlreichen Charaktere sorgt der
Roman von Beginn an mit seiner eindringlichen, bildhaften und klaren Sprache für eine
hohe Sogwirkung. Fazit: auf souveräne Weise gibt die Autorin ebenso kluge wie sensible
Einblicke in schwer zu überwindende unzeitgemäße Ehren- und Sittenvorstellungen, aber
auch literarisch ist dieser Roman ein Meisterwerk.
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