PABLO NERUDA: "BALLADEN VON DEN BLAUEN FENSTERN":

"Geliebte, du hast mein Herz mit Leid erschlagen, wo ich doch früher mich mit Melnacholie begnügte, mit den Rosen der Betrübnis und mit Klagen." Der diese verzweifelt-schönen Zeilen in noch schönerem Spanisch schrieb, hieß Neftali Reyes Basualto und war zu dieser Zeit gerade 15 Jahre alt.

Ganze Schulhefte füllte der Jüngling in Temuco, einer kleinen Stadt im Süden Chiles mit ewigem Regen und düsteren Wäldern. Für die ersten Publikationen in der Lokalpresse riet ein Freund dem vom Vater verlachten Poeten zu einem Pseudonym und er erwählte den Namen des tschechischen Dichters Jan Neruda (1834-1891) – der poetische Schüler war niemand anders als der spätere Literatur-Nobelpreisträger Pablo Neruda (1904-1973).

Doch diese Gedichte aus frühester Zeit, sie galten als verschollen. Die Manuskripte hatte der Dichter seiner Schwester Laura vermacht und Neruda-Kenner Victor Farias entdeckte sie erst 1996 im Nachlass und sorgte 1997 für die erste Veröffentlichung dieser im Original "Die Schulhefte von Temuco" genannten Arbeiten eines der wohl größten Dichter des 20. Jahrhunderts, geboren am 12. Juli 1904.

Die meisten dieser 48 Gedichte, deren Originalen in der jetzt herausgekommenen deutschen Fassung "Balladen von den blauen Fenstern" jeweils die einfühlsame Übertragung von Fritz Rudolf Fries gegenübersteht, wurden mit diesen Schulheften erstmals veröffentlicht. Und die Wiederentdeckung ist ein wirkliches Geschenk an die Nachwelt, denn nicht umsonst erhielt schon der Schüler frühe Ermutigung von keiner Geringeren als Gabriela Mistral, zu seinen Jugendzeiten Schuldirektorin in Temuco, 1945 aber Vorgängerin Nerudas als Nobelpreisträgerin: "Da ist ein echter Dichter verborgen."

Damals war seine Lyrik noch fast völlig unpolitisch, im Mittelpunkt standen vielmehr die Liebe und die Einsamkeit und eines der zentralen Gedichte heißt denn auch "Ballade von der traurigen Kindheit" – Nerudas Mutter starb gleich nach seiner Geburt – und das frühreife Genie träumte sich aus den blauen Fenstern des öden Schulalltags hinaus in eine andere Welt.

Schon in diesen hinreißend gelungenen Jugendwerken deutet sich die später so grandiose Verbindung von Verständlichkeit und rätselhaftem Dunkel an. Und bereits hier hat er den Mut, die tradierten Lyrikformen zu verlassen und ganz in der freien Form aufzugehen, als deren größter Meister er 1971 mit dem Nobelpreis geadelt werden sollte.

Das Verborgene und das Tiefe, das dennoch nie so dun= kel ist, dass die Beziehung zwischen der Umgangssprache und den Versen gänzlich verlorenginge, er gab ihm nicht erst mit Meisterwerken wie "Der rasende Schleuderer" (1933) oder "Die Verse des Kapitäns" (1952) die vollendete Form, der große Dichter beherrschte es im Ansatz schon mit ganzen 16 Jahren: "Eine Frau lieben und ein Buch schreiben: Es ist mir nicht gelungen, weil das Buch Manuskript geblieben ist, und geliebt hab ich mehr als eine...."

 

# Pablo Neruda: Balladen von den blauen Fenstern (Nachdichtung und Nachwort von Fritz Rudolf Fries),136 Seiten; Luchterhand Verlag, München; 25 DM

(öS 183,-/sFr 24,60/€ 12,78)     WOLFGANG A. NIEMANN  (wan/JULIUS)

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