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KALIANE BRADLEY: „DAS MINISTERIUM DER ZEIT“
Wenn der Altersunterschied zwischen einer Frau und ihrem Liebhaber stolze 200 Jahre beträgt, muss man schon von einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte ausgehen. Wenn der Herr jedoch eigens per Zeitreise in ihre Obhut gelangt ist, muss es wohl auch etwas mit ScienceFiction zu tun haben.
Und tatsächlich hat Kaliane Bradley in ihrem verwegenen Debütroman „Das Ministerium der Zeit“ eine einzigartige Melange aus Zukunftsgeschichte und Romane samt Thriller-Elementen angerührt. Auslöser für die britisch-kambodschanische Autorin war eine Dokumentation über die einst missglückte Arktis-Expedition von Sir John Franklin.
Commander Graham Gore – er lebt wirklich von 1809 bis 1847 – versuchte seinerzeit zu Fuß, Hilfe für die im Eis eingeschlossenen Seefahrer zu holen. Und das einzige Foto, das von ihm existiert, elektrisierte Bradley. In einer nahen Zukunft in einem vom Klimawandel gebeutelten London findet die namenlose Ich-Erzählerin einen hochdotierten Job in dem neuen, recht undurchsichtigen Ministerium der Zeit.
Die Vielsprachige soll wie vier andere Kollegen sogenannte „Expats“ begleiten, Menschen, die mit einem technisch nur vage beschriebenen Zeitportal aus der Vergangenheit ins Jetzt transportiert wurden. Bewusst habe man nur konkret Verstorbene ausgesucht, deren Entnahme aus ihrer jeweiligen Zeit keine Folgen für die Zukunft haben kann.
Die Expats kommen aus verschiedenen Epochen der jüngeren Geschichte, wird erläutert, aber Zeitparadoxien durch irgendwelche Eingriffe sollen unbedingt vermieden werden. Nun wohnen die „Brücken“, wie die Begleiter offiziell genannt werden, mit ihrem jeweiligen Schützling zusammen. Sie sollen testen, inwieweit die Probanden mit dem Kulturschock fertig werden und ob sie für ihre neue Zukunft kompatibel sind.
Daraus entwickelt sich ein spannendes Miteinander, denn diese Migranten der besonderen Art reagieren sehr eigenwillig auf die Zustände der Gegenwart. Graham Gore, der Mitbewohner der Ich-Erzähler ist da ein besonderes Exemplar, denn der einstige Navy-Offizier mit der prägnanten Karriere zur Hochzeit des Empires erweist sich als harte Nuss.
Doch es wird nicht einfach nur das teils amüsante Ausforschen Gores geschildert, denn innerhalb des Ministeriums und mit den anderen Expats eröffnen sich Reibereien und Ungereimtheiten. Ist das Ziel der Forschungen wirklich nur das Wissen, ob solche Transporte durch die Zeit für die Betroffenen ohne Schäden bleibt?
Und nach Monaten des Abtastens bricht sich die längst spürbare Glut zwischen Gore und seiner Brücke endlich bahn. Es sind außergewöhnliche prickelnde Szenen und diese Erotik entfaltet sich in wunderbar poetischer Sprache. Wie auch sonst starke Metaphern das Lesen zu einem immer wieder hinreißenden Vergnügen machen.
Doch dies bleibt nur bedingt ein Liebesroman, denn die Wirrungen häufen sich und nicht nur die Expats leben zunehmend gefährlich. Und während die Einschübe von historischen Ereignissen aufwühlen, steigern sich auch die Entwicklungen in der Gegenwart mit rasanter Geschwindigkeit.
Höchst komplex und widersprüchlich treibt das alles auf ein fesselndes Finale zu und sorgt mit massiven Wendungen für atemberaubende Überraschungen. Fazit: eine atmosphärisch dichte Liebes-Zukunfts-Agentengeschichte mit so viel kritischer Tiefe, das man sie bei aller Entrücktheit ernsten nehmen und ganz und gar genießen kann.


# Kaliane Bradley: Das Ministerium der Zeit (aus dem Englischen von Sophie Seitz); 380 Seiten; Penguin Verlag, München; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)