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ROBERT HARRIS: „ABGRUND“
Der britische Premierminister schreibt Liebesbriefe an seine Geliebte, während er in heikler Lage mit dem Kriegsrat tagt. Die junge Schöne ist 35 Jahre jünger und fühlt sich geschmeichelt, dass der mächtige Verehrer seine täglichen Briefe mit manchen Papieren über höchst geheime Staatsangelegenheiten anreichert.
Hätte Erfolgsautor Robert Harris solch eine Geschichte erfunden, er hätte sich lächerlich gemacht. Jedoch – diese Affäre zwischen Premierminister Herbert Henry Asquith und Venetia Stanley, die bis ins Kriegsjahr 1915 reichte, gab es wirklich! 560 Briefe des liberalen Politikers an die junge Dame sind überliefert.
Sie und zahlreiche Telegramme und Zeitungsartikel dienten Harris, dem Meister halbfiktionaler Historienromane, als Grundlage für „Abgrund“, so lautet der Titel des werks, das ebenso ein Liebesroman wie eine Art realer Politthriller ist. Auf Grund des vorliegenden Materials war es dann ein Leichtes, entsprechende Briefe der jungen Adeligen zu erfinden.
Die echten hatte Asquith nach dem Ende der Beziehung verbrannt, ein Akt der Diskretion, der im völligen Gegensatz zu dem Verhalten während der Affäre steht. Wobei der Autor kein hehl daraus macht, dass Asquith mehr als Händchenhalten und Küsschen vermutlich gar nicht vergönnt war.
Um so intensiver war der schriftliche Austausch an Gefühlen, garniert mit Informationen aus dem unmittelbaren politischen Wirken des Premierministers des britischen Empires. Bat er in der großen K>rise in der Irland-Frage im heißen sommer 1914 seine Angebeteten völlig ernsthaft um Ratschläge, wurde es bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs der blanke Irrsinn, bis in welche brisanten Geheimnisse er sie einweihte.
Zum Auftakt leistet sich eine Aristokraten-Clicque zum luxuriösen Lotterleben eine dekadente Party. Venetia hat sich jedoch von der Bootsfahrt abgesetzt, um sich lieber mit dem Premier zu treffen. Als es auf der Themse zu einem Todesfall kommt, wird der – fiktive – Kriminalbeamte Deemer zu den Ermittlungen angesetzt.
Er stößt nebenher auch auf Venetias Namen und das später um so intensiver, als er für den Geheimdienst das Auftauchen geheimer Staatspapiere untersuchen soll. Asquith fütterte seine Angeschmachtete ja nicht nur mit in Kriegszeiten um so heikleren Informationen wie zu Truppenstärken oder Munitionsbeständen.
Es passierte sogar, dass er auf den Schäferstündchen im RollsRoyce zerknüllte Geheimpapiere aus dem fahrenden Wagen warf. Unglaublich aber wahr: die Beziehung zu Venetia war ihm wichtiger als das Kriegsgeschehens. Ein Gipfel dieser Verantwortungslosigkeit gehört zu den brisantesten Passagen des Romans. Da tagt der Kriegsrat, um Winston Churchills fatalen Feldzug zur Eroberung der Dardanellen zu beschließen und der Premier – sitzt dabei und schreibt heimlich einen Liebesbrief.
Bis zur Lächerlichkeit gebärdet sich der Regierungschef der Weltmacht mit Attitüden wie ein verliebter Teenager, während über Kriegszüge beraten wird, die dann über 100.000 Soldaten das Leben kosten werden. Für Asquith aber wird der 11. Mai 1915 die ungleich schlimmere Katastrophe, denn die offenbar ernüchterte Venetia teilt ihm per Brief mit, dass sie seinen jüngeren Parteifreund Montegu heiraten werde.
Und während die Zeitungen täglich Opferlisten junger Briten veröffentlichen und Venetia als Hilfskrankenschwester die Massen an Schwerverwundeten gesehen hat, jammert der abservierte Asquith: „Ich glaube nicht, dass es im Augenblick einesn unglücklicheren Menschen im Königreich gibt als mich.“
Der Geheimdienst hat inzwischen längst mitgelesen, doch nicht der unfassbare Umgang mit geheimen Staatsvorgängen sondern eine parteipolitische Intrige bringt den entscheidungsschwachen Asquith zum Fall. Robert Harris hat aus dieser unglaublichen Staatsaffäre – die so übrigens erst viele Jahre später ans Licht kam – einen spannenden Roman gemacht.
Einmal mehr glänzt er mit brillanten Charakterzeichnungen und sorgt für erlesenes Zeit- und Lokalkolorit. Fazit: in dieser Vermischung von Verliebtheit und hoher Politik ein Stück Literatur der besonderen Art.
# Robert Harris: Abgrund (aus dem Englischen von Wolfgang Müller)M 510 Seiten; Heyne Verlag, München; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)