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ANNA HOPE: „WO WIR UNS TREFFEN“
Philip Ignatius Brooke war Lebemann und Eigentümer eines feudalen alten Landsitzes mit 400 Hektar Land. Nun ist er verstorben und niemand ist wirklich traurig, denn er war erwiesenermaßen ein Mistkerl, Lügner und Betrüger.
Nun steht die Beerdigungsfeier an und dazu kommt die ganze Familie auf dem Landgut im südostenglischen Sussex zusammen. Damit beginnt „Wo wir uns treffen“, der fünfte Roman der englischen Erfolgsautorin Anna Hope. Der eher nichtssagende Titel verbürgt ein ausgreifend erzähltes Familiendrama mit spannendem Personentableau.
So wohlsituiert und dünkelhaft die alteingesessene Familie auch sein mag. Alle tragen Narben der Vergangenheit und jeder will möglichst viel davon hinter sich lassen. Philips Witwe Grace atmet auch deshalb auf, dass sie endlich das ihr verhasste Haus verlassen kann.
Die meiste Zeit über war sie unglücklich hier mit dem ungetreuen Gatten.
Weshalb sie als schwache Mutter auch alles geschehen ließ, unter dem ihre Kinder bei diesem Vater litten. Erleichtert war sie lediglich in den zehn Jahren, als er die damals eben 50-Jährige für eine viel Jüngere nach Amerika verließ. Als er dann plötzlich zurückkehrte, lebten sie zwar wieder unter einem Dach, doch: „er durfte sie nie wieder anfassen.“
Auch Frannie, die älteste Tochter, hatte gelitten, kehrte aber dennoch mit der kleinen Tochter Rowan auf den Landsitz zurück, als er wieder da war. Nun soll sie sogar die Erben des Ganzen werden, weil sie über die Jahre mit dem Vater das große Albion-Projekt angelegt hatte, die durchgreifende Renaturierungsmaßnahme für das gesamte Areal.
Von dieser Entwicklung sind ihre Geschwister wenig begeistert und insbesondere der gut 40-jährige Milo hat sehr eigene Pläne. Schwer gezeichnet von einer Kindheit und Jugend, als man ihn ins Internat steckte, hatte er Drogen- und Alkoholprobleme durchlitten. Kürzlich aber hatte er nach einer tiefen Krise einen Aufschwung durch eine Heilpilz-Kur erlebt.
Zuletzt verschaffte er dem dahinsiechenden Vater solche Glücksmomente durch dieses Psilocybin, dass der ihm einen Anteil auf dem Landsitz für die Heilklinik zusprach. Milos Idee eines Prilocybin-Paradieses für die von ganz oben: „Heile die Anführer und due heilst die Welt.“ Und den windigen Investor dafür hatte er gleich mitgebracht, doch dieser Luca ist hier ein alter und nicht willkommener Bekannter der Familie.
Bleibt Isa, die jüngste der Drei, einst von hier geflüchtete, nachdem der Vater ihr die Liebe mit Jack verbot. Während sie als Lehrerin und Mutter mit ihrer schalen Ehe hadert, fürchtet sie nun die Begegnung mit Jack, der noch immer als Verwalter hier arbeitet.
Dass er nun gehen will, schockiert Frannie, die ihn dringend braucht. Doch das ist eines der geringeren Probleme der Geschwister, die es einander schwer machen. Wobei Mutter Grace wie seit jeher schön aber indifferent ist und lieber Rat und Tat bei Ned sucht.
Einst Philips bester Freund, hätte eigentlich er ihre erste Wahl sein sollen, als sie den beiden in den 60er Jahren auf dem Festival auf dem Landsitz begegnete, das den wilden Erben der Brookes seinerzeit zur Legen machte. Auch Ned, der im nahen Wald in einem alten Bus haust, spielt in diesen fünf Tagen des Romans eine gewichtige Rolle.
Und wenn man nun erwartet, dass dieses komplexe Beziehungsgeflecht spätestens beim opulenten Begräbnismahl der gesamten Familie zum großen Drama wird, erlebt eine überrasche Wende.
Die hat Isa nichtsahnend ausgelöst, als sie Clara zu der Feier einlud, die Tochter von Philips amerikanischer Geliebten. Und ist sie vielleicht auch eine weitere Brooke-Nachfahrin? Auf jeden Fall ein nicht sonderlich willkommener Gast, der dann beim Festmahl genau das Gegenteil von dem tut, was allen in der Familie so wichtig ist: nach Philips Ableben mit der Vergangenheit abzuschließen.
Clara, die nur dank der Großzügigkeit des Brooke-Patriarchen studieren kann, nutzte dies, um ganz tief in die Historie der Familie einzutauchen. Und nun stößt sie die Beerdigungsgesellschaft in die tiefsten Gründe der Vergangenheit. Mehr aber sei hier nicht verraten.
All das entwickelt sich detailliert mit souveräner Prosa und psychologisch überzeugenden Charakterzeichnungen langsam und dennoch fesseln. Fazit: ein anspruchsvolles Lesevergnügen in besten britischen Literaturqualitäten.


# Anna Hope: Wo wir uns treffen (aus dem Englischen vion Ulrike Kretschmer); 445 Seiten; Hanser Verlag, München; € 25

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)