- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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Mit ihrem jüngsten Roman entwirft die anglo-türkische Erfolgsautorin Elif Shafak eine Menschheitsgeschichte über Jahrtausende hinweg und sie übertrifft sich mit diesem Wunderwerk der Erzählkunst noch selbst.
„Am Himmel die Flüsse“ heißt der Titel und Wasser ist das alles verbindende Element. So beginnt der große Reigen um 630 vor unserer Zeitrechnung mit einem Regentropfen. Der fällt auf das Haupt des assyrischen Herrschers Assurbanipal von Ninive, der prächtigsten Stadt seiner Zeit. Dieser König ist eine Art Intellektueller der Frühzeit und der wohl größte Schatz seiner Bibliothek ist das Gilgamesch-Epos.
Doch der Erzählfluss springt nun in den November 1840, als der bewusste Tropfen als Schneeflocke auf die Lippen eines Neugeborenen fällt. In London am Ufer der schmutzstarrenden Themse unter ärmlichsten Bedingungen geboren, nennen ihn die anwesenden Lumpensammler „Arthur, König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“.
Entgegen aller Not führt eine einzigartige Gabe diesen Jungen mit unerschütterlicher Zähigkeit zu einer außergewöhnlichen Karriere: er hat das absolute Gedächtnis. Und das lässt ihn nicht nur auf verschlungenen Wegen ins British Museum auf die riesigen Lamassus stoßen, jene steinernen Wächter aus dem antiken Ninive, sondern auch auf die ungeordneten assyrischen Tontafeln.
Arthur – dem realen Sonderling George Smith nachempfunden – begeistert sich nicht nur für die alten Schätze. Was niemandem sonst bisher gelingt, schafft dieser belesene, ansonsten aber völlig ungebildete Außenseiter: er entziffert die Keilschrifttafeln und bringt das Gilgamesch-Epos in die Neuzeit.
Mag dieser junge Mann auch die große Klammer dieses Romans sein, so geht der Erzählstrom auf einer zweiten Ebene ins Jahr 2014 und eben jenes einst assyrische Mesopotamien, wo der gewaltige türkische Ilisu-Staudamm Euphrat und Tigris das Wasser abzugraben droht.
Hier lebt in einer Gegend voller uralter historischer Stätten Narin, ein neunjähriges Jesiden-Mädchen. Es soll gerade getauft werden, weil es wegen einer seltenen Krankheit zunehmend sein Gehör verliert. Was für sie, deren Volk seine religiösen Überlieferungen ausschließlich mündlich weitergibt, besonders fatal wäre, wenn sie die wunderbaren Erzählungen ihrer Großmutter nicht mehr wird hören können.
Noch schlimmer und für sie völlig unbegreiflich sind jedoch die heftigen Anfeindungen als „Teufelsanbeter“ durch die muslimischen Völker rundherum. Was endgültig zur Katastrophe wird, als sie nicht nur für den Staudamm aus ihrer angestammten Gegen vertrieben werden, sondern dann auch noch dem barbarischen Genozid durch den „Islamischen Staat“ anheimfallen.
Bleibt als dritter Erzählstrang im Jahr 2018 der um die 30-jährige Zaleekhah Clarke, Hydrologin mit irakischen Wurzeln, die unter dem Tod ihrer Eltern in ihrer Kindheit und ihrer Entwurzelung durch die Flucht leidet. Sie zieht nach der Trennung vom Ehemann in ein Hausboot auf der Themse, wo die Begegnung mit der Historikerin Nen, die bevorzugten Kunden in ihrem Tätowier-Studio assyrische Keilschriftzeichen sticht, sie schließlich vom Suizid abhält.
Zaalekhah ist es auch, die von einem Gedächtnis des Wassers überzeugt ist. Und so zieht der Regentropfen aus dem einstigen Ninive mit einer Art magischer Poesie seinen Weg durch die majestätisch schöne und anspruchsvolle Geschichte. Die sogar in ein kleines, wenn auch beklemmendes Happyend mündet.
Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse (aus dem Englischen von Michaela Grabinger), 592 Seiten; Hanser Verlag, München; € 28
Wolfgang A. Niemann (wan/JULIUS)