- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Belletristik (Roman/Krimi)
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KATE ATKINSON: „NACHT ÜBER SOHO“
In ihrem jüngsten Roman widmet sich die britische Erfolgsautorin Kate Atkinson den Roaring Twenties in London. In den Mittelpunkt stellt sie dafür die Nachtclub-Königin Nellie Coker, der der echten Kate Meyrick (1875-1933) nachempfunden ist.
„Nacht über Soho“ spielt im Jahr 1926. Auch acht Jahre nach Ende des großen Krieges mit seinen vielen Opfern hat sich das Vereinigte Königreich noch keineswegs von den auch seelischen Schäden erholt und es gibt viele Menschen, die direkt unter den Nachwirkungen leiden.
Solche Leute sind es allerdings weniger, die an diesem Morgen vom Frauengefängnis Holloway stehen , manche im Fummel unterm Pelzmantel, manche Gentleman mit Spuren einer wilden Nacht. Und dann öffnet sich das Tor und sie schreitet heraus: „Old Ma Coker“. So glanzlos und eulenhaft sie auch wirken mag nach sechs Monaten Knast, so enthusiastisch wird sie mit Schampus empfangen.
Natürlich will Nellie Coker als erstes in die Perle ihrer fünf Nachtclubs, den „Amethyst“. Da glitzert es, die Damen sind halbseiden, die Herren teils von zweifelhaften Ruf aber flüssig, Tanzmädchen käuflich und Stoff gibt es ebenso reichlich wie Alkohol. Es wird geprasst auf Teufel komm raus.
Wenn man es sich leisten kann. Wozu gleich zu Beginn ein funkelnder Satz die Haltung vorgibt: „Es gelang ihm jedoch, dem Thema Sünde nur flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken.“ Das jedoch tut DCI John Frobisher um so mehr, eben vom Scotland Yard hierher in die Polizeiwache im Covent Garden versetzt, um den Sumpf an Korruption auszutrocknen, in den vor allem auch Polizisten verstrickt sind.
Und eben Nellie Coker, die allerdings ganz persönliche Probleme mit ihren Läden hat: eigentlich sollen fünf ihrer sechs Kinder jeweils einen übernehmen, nur scheinen sie irgendwie nicht geeignet für dieses Haifischbecken des Nachtlebens. Und Ramsey, der Jüngste, ist ein Totalausfall, der nur von einer Karriere als Schriftsteller träumt.
Frobischer dagegen seiht außer der Korruption und der Sittenlosigkeit noch ganz andere Sündenfälle, denn immer wieder verschwinden junge Mädchen und manche von ihnen werden später aus der Themse gefischt. Der melancholische Kriminalist, ist sich sicher, dass zumindest einige von ihnen in einen von Nellies Clubs gegangen sind, um nie wieder lebend herauszukommen.
Da erscheint ihm die selbstbewusst auftretende Bibliothekarin Gwendolen Kelling sehr passend. Sie kommt aus York und sucht im Auftrag von zwei Familien nach deren nach London ausgerissenen 14-jährigen Töchtern. Und in den Clubs ist die Gier nach ganz jungem Fleisch den Gerüchten nach unstillbar.
Frobisher, dem angesichts des ungenierten Treibens „die gesetzestreue Galle“ hochkommt, nimmt trotz Bedenken Gwendolens Angebot an, undercover in Cokers Nachtschattenreich einzudringen. Ein gewagtes Unterfangen,, wie man sich um so genauer vorstellen kann, wenn man all die Charakterisierungen liest. Seine es die ebenso hartgesottene wie geldgierige Old Ma selbst, ihre Kinder, manche seltsamen Nachtfalter oder die 40-Thieves-Bande, lauter Diebinnen.
Obwohl das alles eher unaufgeregt erzählt wird, fesselt es allein schon wegen der eleganten Prosa mit manch exquisiten Metaphern und dem unterlegten britischen Humor, Fazit: ein Spannungsroman vor realem Hintergrund und mit illustrem Figurentableau, der ein gehobenes Lesevergnügen bietet.
# Kate Atkinson: Nacht über Soho (aus dem Englischen von Anette Gruber); 527 Seiten; DuMont Verlag, Köln; € 25
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)