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MIRINAE LEE: „DIE ACHT LEBEN DER FRAU MOOK“
Nach ihrer Scheidung arbeitet Lee Sae-ri im Seniorenheim Golden Sunset in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Quasi als Dreingabe zu ihrem Job verfasst sie dort auch gemeinsam mit den jeweiligen Bewohnern Nachrufe für ihr Ableben.
Eine kleine freundliche Zugabe für diese Menschen. Bis sie ausgerechnet in der Demenzstation auf die ungewöhnliche Mook Miran trifft. Die erscheint kein bisschen dement und sie stellt auch gleich klar, dass die übliche Kurzversion ihrer Vita nicht möglich sei. Ihr sehr bewegtes Leben erfordere mindestens acht Kapitel.
Aus diesem Prolog und den einzelnen Stationen hat die in Südkorea geborene und in Hongkong lebende Mirinae Lee ihren mittlerweile bereits preisgekrönten Debütroman „Die acht Leben der Frau Mook“ geformt. Und die hat sich der Nachrufverfasserin als ein wahres Chamäleon offenbart.
Zumeist nicht freiwillig ist sie in Rollen als Sklavin, Terroristin, Spionin, Geliebte, Mutter, Hochstaplerin, Fluchtkünstlerin und sogar die einer Mörderin geschlüpft. Und zu jeder dieser Lebensabschnitte erzählt die wohl an die 100 Jahre alte Frau nicht chronologisch aber mit klaren und oft bewegenden Worten sehr unterschiedliche Geschichten.
In ihrer Kindheit förderte ihre Mutter das Sprachtalent des ebenso klugen wie eigensinnigen Kindes. Vor allem auch die Sprache der japanischen Besatzer, die Korea bis 1945 drangsalierten. Zunächst aber war es der brutale Vater, der ihre Mutter misshandelte und auch ihre Kindheit zerstörte. Da war es schließlich sie, die die Mutter dank intensiver Pflanzenkunde „befreite“.
Um so schlimmer dann die Jugend, als sie wie so viele junge Koreanerinnen für die Besatzer in einer Station als „Trostfrau“ dienen musste. Diese Zwangsprostitution war nicht nur von endlosem Missbrauch begleitet, den Frauen wurden aus zweckdienlichen Gründen auch die Gebärmutter entfernt.
Und Mook Miran, die mehrfach Namen und Identität wechselt und sogar in einem Fall in die Rolle eines jungen Mannes schlüpft, erlebt nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Korea-Krieg. In dem sie als Dolmetscherin für die US-Truppen in einem „Haus“ arbeitet. Doch auch unter diesen Besatzern bedeutet das Prostitution und sie sorgt für die Befreiung der Frauen, indem sie dort Feuer legt.
Ausgerechnet nach ihrer Rückkehr in die jetzt kommunistische nordkoreanische Heimat erlebt sie auch ein privates Glück. Das einerseits mit dem Hineinschlüpfen in die Identität einer anderen Frau verbunden ist, andererseits aber auch mit einem liebevollen Mann und sogar einer Adoptivtochter. Doch auch diese gute Zeit wird durch politische Umstände getrübt und sie muss erneut in ein anderes Leben wechseln.
Natürlich weiß Lee Sae-ri nicht, wie viel von diesen teils haarsträubenden, teils bitteren Schilderungen gewissermaßen entlang eines Jahrhunderts koreanischer Geschichte wahr ist. Erzählt jedenfalls wird es mit bewegenden Worten mit großer Nähe, dabei ebenso sachlich wie auch emotional.
Das alles endet im letzten Kapitel unter dem Titel „Die acht Leben einer 100-jährigen Hochstaplerin“ und lässt manche Deutungen offen. Komplex und sehr eindringlich ist es durchweg und hier sind es auch manche Juwelen an Sprachschönheiten (von Karen Gerwig exzellent ins deutsche übertragen!), die diesen tiefgründigen und lange nachhallenden Roman bei aller Schwere des Inhalts zu einem anspruchsvollen Lesegenuss machen.


# Mirinae Lee: Die acht Leben der Frau Mook (aus dem Englischen von Karen Gerwig); 331 Seiten; Unionsverlag, Zürich; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)