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MONIKA ZEINER: „VILLA STERNBALD“
Wenn im hundertsten Erscheinungsjahr von Thomas Manns Meisterwerk „Der Zauberberg“ ein Roman in seinem Geiste verfasst wird, bedarf es schon hoher Qualitäten, um in diese große Fußstapfen treten zu können. Monika Zeiner ist dieses Kunststück gelungen, nachdem ihr Debüt „Die Ordnung der Sterne über Como“ 2013 bereits auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landete.
„Villa Sternbald oder „Die Unschärfe der Jahre“ lautet diesmal der Titel und dieser Hauptschauplatz des opulent erzählten Epos ist der altehrwürdige Sitz der Familie Finck im Fränkischen. Ich-Erzähler Nikolas Finck, etwa Mitte 40, war jahrelang nicht mehr dort und dass er jetzt für ein Wochenende mit der Bahn angereist ist, war ein eher spontaner Entschluss.
Bisher hatte er die Einladungen zu Großvater Jeans Geburtstagen stets aus fadenscheinigen Gründen torpediert. Doch dieses Mal ist es der 103. des längst ziemlich dementen Patriarchen. Allerdings hielt es den mäßig erfolgreichen Drehbuchautor auch nicht so recht in Berlin, nachdem die Trennung von Lebenspartnerin Ele vor dem anstehenden Vollzug steht.
Allerdings verabscheut Nikolas nicht nur die prächtige alte Villa sondern noch viel mehr die Familie. Für die er wiederum der Außenseiter ist, wobei seine wenig beachtete Ankunft aber eher dem üblichen Desinteresse aneinander in diesem Haus entspricht. Der Ursprung des mit demonstrativer Kultiviertheit und Pflege der Kunst unterfütterten Wohlstand geht bis in die Gründungsjahre des Kaiserreichs zurück.
Ururgroßvater Ferry betrieb einst nicht nur eine Dampfschreinerei, er war auch erfinderisch. Mit der neuartigen Columba-Schulbank gewann er 1897 auf der Pariser Erfindermesse sogar die Goldmedaille und legte damit den Grundstein für die „Schul- und Funktionsmöbelfabrik Finck“.
Doch schon damals begann auch die Tradition, dass es zwar Söhne als Nachfolger gab, die Vater-Sohn-Verhältnisse jedoch durchweg problematisch waren. Ich-Erzähler Nikolas neigt in seinen Erinnerungen daran wie auch im Benehmen jetzt „daheim“ zu bissiger Offenheit bis hin zum Zynismus. Zugleich stößt seine Garstigkeit auf immer mehr Gleichgültigkeit, als aus dem einen Wochenende in seltsamer Unschlüssigkeit ein ganzes Jahr wird.
Die Oberflächlichkeit seines Vaters, das Desinteresse der dünkelhaften Mutter, die nur ihre Klavierdarbietungen in der Villa im Kopf hat, das leere Miteinander auch mit seinem jüngeren, gewissermaßen linientreuen Bruder Sebastian – das sind Grundlagen für eine gewisse Haltlosigkeit.
Dieses Epos ist jedoch ungeheuer vielschichtig mit einem erlesenen Personentableau und springt immer wieder zu den anderen Generationen der Fincks, formt ein Puzzle aus einer solchen Vielzahl von Fakten und Facetten, dass sich das Bild zwar rundet, dabei aber immer wieder verändert. Mag Nikolas auch der Spinner in der Familie sein, der schon als Kind verwegen fantasierte – mit seinem scharfsinnigen Mundwerk reißt er so manche gepflegte Tarnung hinweg.
Und leidet doch nicht nur an der Villa, ihrem Geist und was sie für ihne bedeutet. Da gibt es immer noch Katharina, Schulkameradin, später erste Freundin und irgendwie bis jetzt mit Sehnsucht vermisste Jugendliebe. Als Schülerin seiner aufdringlichen Mutter war sie häufiger Gast in der Villa wegen des Blüthler-Flügels.
Das große Erinnern treibt Nikolas dauerhaft um bis tief in die Kindheit und deren nicht erinnerlichen Ende: „Vielleicht war dies der letzte Tag gewesen, an dem die Zeit endlos war.“ Der blitzgescheite Junior mit all seinen Macken und Traumata steht aber ebenso in der Tradition dieser Familie, die er gnadenlos offenlegt: die Lügerei und das Verschweigen von Wahrheiten.
Allen voran ist das für ihn die Abscheu darüber, dass die Familie in er Nazi-Zeit angeblich aus Freundschaft der Familie stein als vorweggenommene Arisierung ihre Fabrik billig abgekauft hat, damit sie Geld für die Flucht hatte. Nikolas drängt das bis hin zu wissenschaftlichen Studien über diesen exemplarischen Fall.
Hier wie auch bei den vielen anderen Bildern aus der Vergangenheit spielt die Unschärfe der Jahre des Titels eine immer wieder verwirrende Rolle. Überraschendes, Tatsachen und Irrtümer wechseln sich da ab mit grandiosen Streitgesprächen über grundsätzliche Kontroversen insbesondere mit Gregor Achaz.
Der Intellektuelle wohnt im Gartenhaus der Villa und bereitet das 125-jährige Jubiläum der Firma vor. Neben den intensiven Diskursen mit dem Ich-Erzähler werden auch die Jugendwirren bis hin zu Rebellion, Drogen und Suizidversuch zum Katalysator dieser Familiengeschichte. Da funkeln so manche Sätze und über allem liegt ein steter Hauch der Satire.
Und dann ist da diese Klarheit und Poesie in dieser Prosa, die an Thomas Mann erinnert (sic - „Der Zauberberg“!). Es gibt jedoch auch Witziges und sogar Rührendes – Nähe, Zuwendung oder gar Liebe jedoch sind Mangelware und es wird sarkastisch festgestellt: „Freundschaft stand in der Familie Finck nicht hoch im Kurs.“
Um so höher aber ist die Bedeutung dieses auf die beste Weise sehr deutschen Romans einzuschätzen, der lange nachhallt und nach einem erneuten Lesen verlangen lässt. Fazit: Monika Zeiner hat einen würdigen Anwärter für den Titel „Buch des Jahres 2024“ geschrieben.
# Monika Zeiner: Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre; 669 Seiten; dtv Verlag. München; € 28
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS) °