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PAUL HARDING: „SEIN GARTEN EDEN“

Benjamin Honey ließ sich 1793 mit seiner Frau Patience auf einer winzigen Insel in Sichtweite der Küste des US-Staats Maine nieder. Als erster Bewohner dort pflanzte der entlaufende schwarze Sklave mit der irischen Partnerin Patience Apfelbäume auf dem Eiland an, das dann später auch Apple Island genannt wurde.

Obwohl die Insel 1815 von einem Sturm schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war und auch die inzwischen fast 30 weiteren Mitbewohner große Schäden erlitten, war es nur für Benjamin das Paradies, ein karger aber eigener Garten Eden.

Sein Garten Eden“ lautet denn auch der Titel des dritten Romans von Pulitzer-Preisträger Paul Harding. Den bevölkert eine ungewöhnliche Mischung von Menschen quer durch die Ethnien von Kongolesen und Angolanern über Kapverden und Iren bis hin zu Schotten. Eine wahrhaft bunte Gesellschaft.

Sie alle führten ein primitives und geradezu archaisches Leben und alle so selbstverständlich miteinander verzahnt, dass Hautfarben und Verwandtschaftsgrade keine Rolle spielten. Rauchen und dickflüssiger schwarzer Tee halfen gegen den ständigen Hunger. Dennoch bekamen sie es hin, ihre Kinder vorm Verhungern zu bewahren und alle waren offenbar zufrieden mit ihrem Leben.

Die Geschichte führt nun Anfang des 20. Jahrhunderts zu den markantesten Personen auf der Insel mit jetzt knapp 50 Bewohnern. Zu denen gehören Nachfahren der Honeys ebenso wie auch der Zimmermann Zachary Gotthelf Proverb, der in einer hohlen Eiche haust, deren Wände er mit geschnitzten Szenen aus der Bibel verziert.

Dann sind da die Geschwister Lark, die nach dem Tod ihrer Eltern aus Einsamkeit und Trauer ihre Familie einfach weiterführen und neun Kinder in die Welt setzen. Die vier Überlebenden von ihnen sind allerdings so schwach, dass sie ausschließlich im Dunklen aktiv sind.

Wer nun glaubt, das alles sei eine recht abwegige Fiktion, dem sei gesagt, dass Paul Harding seine Geschichte auf der Grundlage einer real existierenden Gemeinschaft auf der Malaga-Insel in der Casco-Bucht von Maine erzählt. Und die nahm nach 1900 eine schlimme Wende, als in Person des pensionierten Lehrers und Missionars Matthew Diamond die Zivilisation über sie hereinbrach.

Der ließ eine Einraumschule bauen und begann, den Kindern das Lesen mit Hilfe von Bibel und Shakespeare beizubringen. Die Insulaner fürchteten nicht nur, dass der „ganz weiße“ Mann manche von ihnen verscheuchen würde. Vielmehr fürchteten sie die Aufmerksamkeit, die er von außen auf sie ziehen könnte.

Diamond ist gütig und wohlmeinend und bringt den Kindern Latein und Algebra bei – was bei einigen sogar gut gelingt. Und begeht eines Tag doch den schicksalhaften Fehler, einem Freund von der Gemeinschaft zu schreiben. Hatte bisher nur der wenig interessierte Frauenhilfsverein vom Festland so viel Anteil genommen, dass er hin und wieder Hilfsgüter schickte, werden nun staatliche Stellen aufmerksam.

Mit furchtbaren Folgen, als im Frühjahr 1911 eine Kommission zur „Begutachtung“ ins kleine primitive Paradies einfiel. Darunter auch zwei Ärzte, ganz beseelt von der eben aufgekommenen Rassenlehre der Eugenik, jener pervertierten Lehre aus Darwins Evolutionstheorie.

Mit rigorosem Dünkel vermaßen und bewerteten sie die gemischtrassige Gemeinschaft und stuften nicht nur die in Inzucht geborenen Kinder als geistesschwach ein. Matthew Diamond war zwar entsetzt, wagt jedoch nicht kundzutun, dass einige der Kinder sogar Fragen auf Latein beantworten oder Rechenaufgaben lösen könnten.

In einer kruden Mischung aus staatlicher Fürsorge und Rassismus wird die Insel ein Jahr später evakuiert und unbewohnbar gemacht. Lehrer Diamond schafft nur die Rettung von Ethan, einem künstlerisch begabten Nachfahren der Honeys, indem er ihn zu einer befreundeten Familie aufs Festland schickt. Fazit: ein Roman von herber Poesie, exzellent geschrieben und ebenso übersetzt. Anspruchsvoll und nicht eben heiter, aber ein literarisches Meisterwerk, das lange nachhallt.

Paul Harding: Sein Garten Eden (aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz); 317 Seiten; Luchterhand Literaturverlag, München;

€ 24

 WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)