- Geschrieben von: Wolfgang A. Niemann
- Kategorie: Kinder- & Jugendbücher
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TOBIAS ELSÄSSER: „MUTE“
Die Mute-Taste an elektrischen Geräten dient zum Stummschalten desselben. Was „Mute“ als Titel des neuen Jugendromans von Tobias Elsässer zu bedeuten hat, erschließt sich jedoch erst später und soll hier nicht verraten werden.
Im Mittelpunkt steht die 16-jährige Espe, neben es der es noch die ebenfalls adoptierten Yuma und Farid sowie die leibliche Tochter Sina in der Familie gibt. Die Eltern Sibel und Erik Simwe sind sehr liebevoll zu allen vier, allerdings leben sie wegen ihrer Forschungsarbeiten ziemlich nomadenhaft.
Die Adoptionsthematik steht von Beginn an im Vordergrund, denn Ereignisse der letzten Wochen haben aufwühlende Empfindungen in Wallung versetzt. Da ist dieses drückende Gefühl der Ungewissheit wegen all der Lücken in der eigenen Vita, wenn man weder die Namen noch die Gesichter der leiblichen Eltern oder wenigstens die genaueren Umstände der Kindheit kennt.
Und hier greift der Untertitel des Romans: „Wer bist du ohne Erinnerungen?“ Diese Wunde wurde nun zunächst aufgerissen durch einen an sich harmlosen Autounfall am neuen Wohnort. Plötzlich wird Yuma auf störrische Weise unnahbar, wogegen Farid quasi verstummt.
Espe aber wird seither von unerklärlichen Visionen heimgesucht und es tritt ein folgenreiches Phänomen auf: ihr Geruchssinn eskaliert so hypersensibel, dass es quälend wird. So drastisch, dass bestimmte Gerüche sogar gewalttätige Explosionen auslösen. Doch diese Störungen bei den Adoptivkindern sind zwar verwirrend aber noch nicht wirklich besorgniserregend.
Dann jedoch bricht eine Katastrophe über die Familie herein, als eines nachts ein großes Polizeiaufgebot hereinbricht und die Eltern verhaftet. Zugleich werden die Kinder an isolierten Orten untergebracht, ohne Näheres zu erfahren. Und nun beginnen die Protokolle der Sitzungen, die Espe im Psychiatrischen Krankenhaus wegen einer massiven Posttraumatischen Belastungsstörung.
Eingewoben werden jetzt auch Interviewpassagen mit einer Investigativ-Journalistin und millimeterweise werden ungeahnte aber quälende Ereignisse der Vergangenheit aufgedeckt. In einem höchst intensiven Wechsel der Erzählperspektiven tun sich Rätsel und Geheimnisse auf und doch wird auch den Kindern gegenüber lange nicht einmal angedeutet, weshalb die Eltern eingesperrt worden sind.
Um nicht zu viel zu spoilern, sei nur verraten, dass die beiden Forscher schließlich wegen Kindesentführung, Urkundenfälschung weiterer Delikte angeklagt werden. Auch hier spielen die Erinnerungen der Adoptivkinder mit ihren lateinamerikanischen Wurzeln ebenso eine zentrale Rolle wie Forschungen zu Epigenetik und Trauma-Therapien.
Das alles erscheint sperrig, wer sich jedoch auf diese komplexe Geschichte einlässt mit ihren sehr ernsten realen Hintergründen einlässt, wird recht bald unentrinnbar hineingezogen und erlebt ein anspruchsvolles tiefgründiges Leseabenteuer, das noch lange nachhallt. Im Übrigen dürfte dieser filmreife Roman nicht nur junge Leser ab 15 Jahre fesseln sondern auch Erwachsene.
# Tobias Elsässer: Mute – Wer bist du ohne Erinnerung?; 298 Seiten, Klappenbroschur; Hanser Verlag, München; € 17
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)